Die Finger meiner rechten Hand sahen schlimm aus. Viel geblutet hatten sie dank des Bades im eisigen Wasser nicht, aber drei wiesen vom Nagel bis zum Handrücken häßliche Risse auf und waren völlig kraftlos.
Ich sah auf die Uhr, doch sie war stehengeblieben.
Ich mußte die Sache wieder in den Griff bekommen, dachte ich. Mußte wirklich zu mir kommen. Das war dringend notwendig.
Ich ging zum Telefon hinüber und wählte die Nummer der Universität, Abteilung ausländische Studenten. Stephen wurde geholt und meldete sich liebenswürdig.
»Ist noch was?« fragte er.
»Wie spät ist es? Meine Uhr steht.«
»Sie haben doch nicht angerufen, um mich das zu fragen? Es ist übrigens fünf nach sechs.«
Fünf nach sechs ... kaum zu glauben. Erst eine dr ei viertel Stunde war vergangen, seit ich mich zur Botschaft aufgemacht hatte. Mir kam es wie ein dreiviertel Jahrhundert vor.
»Hören Sie«, sagte ich. »Würden Sie mir einen Riesengefallen tun? Würden Sie ...« Ich verstummte. Eine Welle von Übelkeit überflutete mein ramponiertes Nervensystem, und ich keuchte.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Stephen bedächtig.
»Nein«, antwortete ich. »Hören Sie ... würden Sie zur britischen Botschaft gehen und ein Fernschreiben abholen, das dort für mich liegt, und es ins Intourist bringen? Ich würde Sie nicht darum bitten, aber ... wenn ich es heute nicht kriege, muß ich bis Montag warten ... und seien Sie vorsichtig ... wir haben ziemlich rauhbeinige Freunde ... Fragen Sie in der Botschaft nach Polly Paget vom Büro des Kulturattaches.«
»Waren die rauhbeinigen Freunde wieder mit dem Pferdetransporter zugange? Können Sie deshalb nicht selbst gehen?« fragte er besorgt.
»So ähnlich.«
»Na gut«, sagte er. »Bin schon unterwegs.«
Ich legte den Hörer auf die Gabel zurück und verschwendete einige Minuten damit, mir selbst leid zu tun. Dann beschloß ich, Polly Paget anzurufen, konnte mich aber nicht an die Nummer erinnern.
Die Nummer stand auf einem Zettel in meiner Brieftasche. Meine Brieftasche befand sich in der Brusttasche meiner Jacke oder hatte sich dort befunden. Meine Jacke war naß und im Badezimmer, wo Frank sie hingetan hatte. Ich nahm alle Kraft zusammen und ging nachsehen. Die Brieftasche war noch da, aber, wie nicht anders zu erwarten, durch und durch naß.
Ich fischte die Liste der Telefonnummern heraus, entfaltete sie, und zu meiner Erleichterung war sie noch lesbar.
Polly Paget klang verärgert, daß ich noch nicht mal unterwegs war.
»Ich bin hier fertig«, sagte sie gereizt. »Ich möchte jetzt gehen.«
»Ein Freund kommt an meiner Stelle«, sagte ich. »Stephen Luce. Er muß gleich da sein. Bitte warten Sie auf ihn.«
»Also gut.«
»Und könnten Sie mir Ian Youngs Telefonnummer geben? Von seiner Wohnung, meine ich.«
»Augenblick.« Sie ging weg, kam wieder und nannte die Nummer. »Das ist seine Wohnung hier auf dem Botschaftsgelände. Soviel ich weiß, bleibt er fast das ganze Wochenende zu Hause. Wie wir alle. In Moskau ist ja nie viel los.«
Wenn Sie wüßten, meine Dame, dachte ich.
Stephen kam und brachte Gudrun mit.
Die Zwischenzeit hatte ich damit verbracht, trockene Unterwäsche, Hosen und Socken anzuziehen und mich aufs Bett zu legen. Franks Rat mit dem heißen Bad befolgte ich nicht, wie Ophelia hatte ich bereits zuviel des Wassers gehabt. Es wäre doch zu dumm gewesen, wenn ich im Bad ohnmächtig geworden und von weißen Kacheln umgeben ertrunken wäre.
Stephens fröhliches Grinsen verschwand sehr schnell.
»Sie sehen aus wie der Tod. Was ist denn passiert?«
»Haben Sie das Fernschreiben?«
»Ja, haben wir. Das Ding ist endlos. Setzen Sie sich bloß, bevor Sie umkippen.«
Gudrun plazierte ihre schlanke, elegante Gestalt auf das Sofa, während Stephen meinen Scotch in Zahnputzgläser ausschenkte. Ich zog mich wieder auf mein Bett zurück und deutete auf die heikle Stelle an der Wand. Stephen nickte, nahm den Recorder, machte ihn an und hielt ihn gegen den Putz.
Nichts.
»Außer Dienst«, stellte er fest. »Also, erzählen Sie uns, was geschehen ist.«
Ich schüttelte leicht den Kopf. »Eine Prügelei.« Mir lag nichts daran, Gudrun mit hineinzuziehen. »Sagen wir einfach ... es gibt mich noch.«
»Und du nicht wollen machen Stunk?«
Ich lächelte dünn. »Man hat seine Gründe.«
»Hoffentlich gute. Hier sind also Ihre heißen Neuigkeiten von daheim.« Er zog einen Umschlag aus der Tasche und warf ihn mir zu. Ich machte den Fehler, ihn mit der rechten Hand fangen zu wollen, und ließ ihn prompt fallen.
»Sie haben sich die Finger verletzt«, sagte Gudrun besorgt.
»Ein bißchen geklemmt.« Ich holte das Fernschreiben aus dem Umschlag, und das Ding war tatsächlich endlos. Hughes-Beckett wollte offenbar meine schlechte Meinung über sein Büro widerlegen, dachte ich zynisch.
»Während ich das lese«, sagte ich, »würden Sie wohl einen Blick auf das Zeug da werfen?« Ich wies auf die Hustenpastillendose und Mischas Zettel. »Übersetzen Sie es mir bitte.«
Sie nahmen das Häufchen Papiere und blätterten es murmelnd durch. Ich überflog den ersten Abschnitt des Fernschreibens, der sich ausschließlich mit Hans Kramers Lebenslauf beschäftigte und viel mehr Einzelheiten enthielt, als ich erwartet oder erbeten hatte. Bereits mit drei Jahren hatte er auf Ponys Preise gewonnen. Hatte acht verschiedene Schulen besucht. In seiner Jugend schien er häufig krank gewesen zu sein, denn es gab Hinweise auf Ärzte und Krankenhäuser, aber mit achtundzwanzig hatte sich das gegeben. Sein frühes Interesse an Pferden hatte sich von da an verstärkt, und er gewann große Turniere. Zwei Jahre lang, bis zu seinem Tod, reiste er teils allein, teils als Mitglied der westdeutschen Mannschaft zu internationalen Veranstaltungen.
Dann kam ein Abschnitt mit der Überschrift »CharakterBeurteilung«, in dem rückhaltlos schlecht über den Toten gesprochen wurde. »Geduldet, aber nicht beliebt unter seinen Mannschaftskameraden. Ungewöhnliche Persönlichkeit, kalt, unfähig, Freunde zu gewinnen. Vorliebe für Pornographie, hetero- und homosexuelle, aber soweit bekannt keine längerfristige sexuelle Bindung. Latente Gewalttätigkeit zu vermuten, Benehmen im allgemeinen jedoch beherrscht.«
Dann eine nackte, kurze Feststellung: »Die Leiche wurde den in Düsseldorf lebenden Eltern übergeben und eingeäschert.«
Da war noch sehr viel mehr über andere Dinge zu lesen, aber ich sah von den getippten Seiten auf, um festzustellen, wie Stephen und Gudrun vorankamen.
»Na, was haben Sie gefunden?« fragte ich.
»Vier Autogramme von Deutschen. Eine Liste in russischer Sprache über Bürsten und andere Sachen, die mit Pferdepflege zu tun haben. Eine weitere Liste, auch in russisch, mit Zeiten und Orten, die sich meiner Meinung nach auf Reitturniere beziehen, denn da steht beispielsweise >Querfeldeinstrecke Start zwei Uhr vierzig, Bleidecke nicht vergessen.< Beide müssen von Mischa geschrieben sein, denn da ist auch noch eine Art
Tagebuch, in dem er aufführt, was er für seine Pferde getan hat, welches Futter sie bekamen und so weiter, und das wäre alles.«
»Was ist mit dem Zettel in der Pillenschachtel?«
»Ah ja. Tja, um ganz aufrichtig zu sein, da können wir Ihnen wenig helfen.«
»Warum nicht?«
»Es ergibt keinen Sinn.« Er schnitt mir eine komische Grimasse.
»Oder können du bringen Sinn in Unsinn?«
»Wer weiß.«
»Also gut. Wir glauben, daß die Buchstaben auf dem Zettel möglicherweise zweimal dasselbe sagen, einmal auf russisch, einmal auf deutsch. Aber in keiner Sprache sind es gewöhnliche Wörter, außerdem sind alle zusammengezogen, ohne Zwischenraum.«
»Könnten Sie es mir in englisch aufschreiben?«
»Immer zu Ihren Diensten.«