Er nahm den Umschlag, der das Fernschreiben enthalten hatte, und schrieb eine lange Reihe von Buchstaben darauf.
»Da kommen ganz am Ende einige Buchstaben, die tatsächlich ein englisches Wort ergeben ...« Er beendete sein Werk und reichte mir den Umschlag. »Da haben Sie es. Klar wie Kloßbrühe.«
Ich las:
Etorphinhydrochlorid245mgacepromazinmaleatiomgchl
orocresoloi-dimethylsulphoxid9oantagonistnaloxon.
»Verstehen Sie es?« fragte Stephen. »Eine chemische Formel vielleicht?«
»Weiß der Himmel.« Mein Gehirn war wie Rührei.
»Vielleicht beschreibt es den Inhalt der Ampullen. Da steht etwas mit Naloxon drauf.«
Stephen hielt eine der winzigen Phiolen gegen das Licht, um die Buchstaben zu entziffern. »Tatsächlich. Ein mächtig großer chemischer Name für so ein winzig kleines Produkt.« Er legte sie in die Schachtel zurück und den Originalzettel darauf. »Das war’s also.« Er machte die Schachtel zu und legte sie hin. »Was für eine schäbig aussehende Matroschka. Wo haben Sie die denn her?« Er hielt die Puppe in der Hand.
»Sie enthält den Rest von Mischas Souvenirs.«
»Tatsächlich? Darf ich sie anschauen?«
Er hatte beinahe soviel Schwierigkeiten, sie auseinanderzunehmen, wie ich beim erstenmal, und genauso purzelte alles heraus. Stephen und Gudrun krochen auf dem Boden herum und sammelten die einzelnen Stücke auf.
»Hm«, machte er beim Lesen der tiermedizinischen Etiketten.
»Genau dasselbe Kauderwelsch. Ist was davon zu gebrauchen?«
»Nur wenn Sie Wanzen haben.«
Er tat alles in die Puppe zurück, auch die Dose und die Autogramme.
»Soll ich das Zeug zu Jelena zurückbringen?« fragte er.
»Das wäre sehr nett von Ihnen.«
»Mischa möchte sicher seinen Krimskrams zurückhaben.«
»Ja.«
Stephen betrachtete mich eingehend. »Gudrun und ich sind auf dem Weg zum Abendessen mit ein paar Freunden, und ich glaube, Sie sollten mitkommen.« Ich machte den Mund auf, um zu sagen, daß mir nicht danach sei, aber er gab mir keine Gelegenheit dazu. »Gudrun, sei ein Schatz und warte auf uns am Fahrstuhl, da sind ein Paar Stühle, während ich unseren Freund hier in seine Sachen stecke und ihn zuknöpfe.« Er deutete auf meine funktionsunfähigen Finger. »Los, Gudrun, mein Schatz, es dauert nicht lange.«
Gutmütig verschwand sie, langbeinig und verständnisvoll.
»Na denn«, sagte Stephen, als die Tür sich hinter ihr schloß. »Wie schlimm ist Ihre Hand? Bitte, Sie müssen mit uns kommen. Sie können nicht den ganzen Abend dasitzen und benommen dreinschauen.«
Vage erinnerte ich mich, daß ich eigentlich in die Oper gehen sollte. Nataschas Fahrkarte ins Land der Phantasie interessierte mich so sehr wie Kopfschmerzen: Aber wenn ich allein in meinem Zimmer blieb, würde ich mich bestimmt noch schlechter fühlen, als mir jetzt schon war, und wenn ich einschlief, würde ich Alpträume vom Tod in Balaclavas kriegen ... und Hotelzimmer waren nicht gerade Festungen.
Frank hatte nichts von meinen Angreifern gesagt, und sehr wahrscheinlich hatten sie sich zurückgezogen, als er mir zu Hilfe kam. Das bedeutete aber nicht, daß sie sich nicht noch ein bißchen in der Nähe aufgehalten hatten. Vielleicht wußten sie, daß er mich herausgefischt hatte.
»Randall!« sagte Stephen scharf.
»Entschuldigung . « Ich hustete krampfhaft und fröstelte.
»Werden Ihre Freunde nichts dagegen haben, wenn ich mitkomme?«
»Natürlich nicht.« Er riß die Schranktür auf und zog meine zweite Jacke heraus. »Wo ist Ihr Mantel ... und die Mütze?« »Zuerst das Hemd«, sagte ich. »Das karierte.«
Steif erhob ich mich und zog den Morgenrock aus. Auf meinen Armen erschienen bereits blaue Flecke, wo die Schlagstöcke mich getroffen hatten, aber ansonsten, so stellte ich zu meiner Freude fest, wies meine Haut nicht mehr die interessante Türkisfärbung, sondern die normale leichte Bräunung auf. Stephen half mir wortlos bis zu dem Augenblick, wo er etwas aus dem Badezimmer holen wollte und mit einem ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht zurückkam.
»Ihre ganzen Sachen sind ja naß!«
»Ah, ja. Ich bin in den Fluß geschubst worden.«
Er wies auf meine Hand. »Diese Art Schubs?«
»Ich fürchte ja.«
Er machte den Mund auf und zu wie ein Goldfisch. »Ist Ihnen klar, daß die Temperatur heute abend weit unter dem Gefrierpunkt liegt?«
»Was Sie nicht sagen.«
»Und daß die Moskwa jetzt jeden Tag zufrieren kann?«
»Zu spät.«
»Phantasieren Sie?«
»Würde mich nicht wundern.« Ich zwängte mich in mehrere Pullover und fühlte mich hundsmiserabel. »Hören Sie«, begann ich schwach, »ich glaube, die Freunde schaffe ich nicht ... aber ich möchte auch nicht in diesem Zimmer bleiben. Glauben Sie, ich könnte in ein anderes Hotel ziehen? Sehen Sie eine Möglichkeit?«
»Nicht die geringste. Absolut keine Chance. Kein Hotel dürfte Sie ohne eine zwei Wochen vorher erfolgte Reservierung und eine Menge Papierkram aufnehmen, und vielleicht nicht mal dann.« Er sah sich um. »Was gefällt Ihnen denn an dem Zimmer nicht? Ich finde es gar nicht so übel.«
Ich fuhr mit der Hand über meine schweißnasse Stirn. Die beiden Sweater trugen ihren Namen wirklich zu Recht.
»Dreimal in zwei Tagen hat jemand versucht, mich umzubringen. Daß es mich noch gibt, ist reines Glück ... aber ich habe das Gefühl, das Glück verläßt mich langsam. Ich habe keine Lust, hier als Zielscheibe rumzusitzen.«
»Dreimal?«
Ich erzählte ihm von der Gorkistraße. »Ich will ja nur ein sicheres Plätzchen zum Schlafen.« Ich überlegte. »Ich glaube, ich werde Ian Young anrufen ... er könnte mir vielleicht helfen.«
Ich wählte die Nummer, die Polly Paget mir gegeben hatte. Es klingelte und klingelte in der Wohnung auf dem Botschaftsgelände, aber die Sphinx trieb sich in der Stadt herum.
»Verdammt«, murmelte ich mit Gefühl und legte den Hörer auf.
Stephens braune Augen waren voll sorgenvoller Gedanken. »Wir könnten Sie in die Universität schmuggeln«, sagte er. »Aber mein Bett ist so schmal.«
»Überlassen Sie mir den Fußboden.«
»Im Ernst?«
»Mm.«
»Tja ... also gut.« Er sah auf die Uhr. »Es ist zu spät, Sie auf normalem Weg hineinzubringen. Alles schon zu ... wir müssen den Dreikartentrick anwenden.«
Er nahm seinen Studienausweis aus der Tasche und gab ihn mir.
»Zeigen Sie ihn beim Reingehen dem Drachen, und gehen Sie immer weiter, direkt die Treppe rauf. Die kennen nicht alle Studenten so genau, und sie wird denken, Sie sind ich. Gehen Sie einfach in mein Zimmer rauf. O.K.?«
Ich nahm den Ausweis und steckte ihn in meine Jackentasche.
»Und wie kommen Sie rein?« fragte ich.
»Ich rufe einen Freund an, der im selben Block wohnt«, erklärte er. »Der holt sich meinen Ausweis von Ihnen und bringt ihn mir raus, wenn Gudrun und ich zurückkommen.«
Er half mir in die Jacke, nahm dann die Fernschreiben und tat sie in den Umschlag zurück. Ich steckte ihn in meine Jackentasche und dachte an schwarze Automobile.
»Ich würde riesig gern sicher sein, daß ich nicht verfolgt werde«, sagte ich.
Stephen verdrehte die Augen. »Alles im Preis mit inbegriffen«, sagte er. »Was soll ich also tun?«
Was wir dann taten, war folgendes: Ich fuhr mit einem Taxi zum Universitäts-Prospekt, dem Aussichtspunkt für Touristen mit Blick über das Stadion und die Stadt, während er und Gudrun in einem zweiten folgten. Im dichten Schneetreiben dort stiegen wir aus und tauschten die Wagen.
»Ich schwöre es, niemand ist uns gefolgt«, versicherte Stephen. »Sie müßten sonst sechs verschiedene Wagen benutzt und sich abgelöst haben.«
»Vielen Dank.«
»Immer zu Diensten.«
Er erklärte dem Taxifahrer, wo er mich hinbringen sollte, und verschwand mit Gudrun in der Dunkelheit.