Danach bat ich um ein Blatt Papier und teilte die lange Buchstabenreihe unter Hinzufügung einiger vernünftig wirkender Dezimalpunkte in sinnvolle Worte auf. Das las sich dann so: etorphin hydrochlorid 2.45 mg acepromazin maleat 1.0mg chlorocresol 0.1- dimethyl sulphoxid 90 antagonist naloxon.
Stephen sah mir über die Schulter. »Das macht natürlich einen Riesenunterschied«, stellte er fest.
»Hm«, machte ich nachdenklich. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
»Spucken Sie’s aus.«
»Leihen Sie mir eine leere Kassette für Ihren Recorder, und eine weitere mit Musik drauf. Oder besser, zwei leere Kassetten, wenn Sie haben.«
»Ist das alles?« Er klang enttäuscht.
»Für den Anfang, ja.«
Er kramte herum und zog drei Bänder in Plastikbehältern hervor.
»Auf allen ist Musik«, sagte er. »Aber Sie können sie überspielen, wenn Sie wollen.«
»Sehr gut.« Ich zögerte, denn was ich sonst noch von ihm wollte, klang etwas melodramatisch; aber den Tatsachen mußte man ins Auge sehen. Ich faltete das Papier mit der chemischen Formel zusammen und reichte es ihm. »Würden Sie das aufbewahren?« Ich zwang meine Stimme, ganz gleichgültig zu klingen. »Heben Sie es auf, bis ich wieder zu Hause bin. Ich schicke Ihnen eine Postkarte, wenn Sie es zerreißen können.«
Er sah verwirrt aus. »Ich verstehe nicht ...«
»Wenn ich nicht nach Hause komme oder Sie keine Postkarte kriegen, dann schicken Sie das an Hughes-Beckett im Auswärtigen Amt. Die Adresse steht auf der Rückseite. Schreiben Sie ihm, daß Hans Kramer das bei sich hatte, und er soll es einem Tierarzt zeigen.«
»Einem Tierarzt?«
»Richtig.«
»Ja, aber ...« Ihm dämmerte, was ich gesagt hatte. »Wenn Sie nicht nach Hause kommen ...«
»Na ja ... Pech beim viertenmal oder so ähnlich.«
»Um Himmels willen.«
»Haben Sie samstags Vorlesungen?« fragte ich.
Seine Augenbrauen verschwanden unter dem Haaransatz. »Ist das eine allgemeine Einladung, meinen
Kopf neben Ihrem in die Falle zu stecken?«
»Vielleicht nur, um Anrufe zu machen und Taxifahrern zu sagen, wo sie hinfahren sollen.«
Er zuckte mit den Schultern, und auf seinem Gesicht stand: »Wir nicht glauben ein Wort von was du sagen.«
»Was zuerst?« fragte er.
»Rufen Sie Mr. Kropotkin an, und wenn er da ist, fragen Sie, ob ich ihn heute vormittag besuchen kann.«
Wie sich herausstellte, war Kropotkin nicht nur zu Hause, sondern begierig darauf, mich zu sehen. »Er sagt, er hat den ganzen Tag versucht, Sie im Hotel zu erreichen. Er sagt, wir sollen um zehn Uhr da sein. Er wird im ersten Stallblock links auf der Rennbahn auf uns warten.«
»Sehr gut.« Ich pustete kühlenden Atem auf meine heißen, geschwollenen Finger. »Ich möchte auch Ian Young versuchen.«
Ian Young war wieder auf britischem Boden und schien eine Weile zu brauchen, bis ihm aufging, mit wem er sprach. Er fühlte sich etwas geschwächt, erklärte er schließlich, und setzte halb kläglich, halb bewundernd hinzu, keiner könne saufen wie die Russen und ich solle bitte nicht so laut sprechen.
Entschuldigung, flüsterte ich pianissimo. Ob er mir sagen könne, wie ich am besten ein Telefongespräch nach England zustande brächte. Ich solle es auf dem Postamt gleich um die Ecke vom Hotel versuchen, sagte er, und die Fernvermittlungsstelle verlangen, aber viel Hoffnung sei da nicht.
»Manchmal kommt man in zehn Minuten durch, aber meistens dauert es eher zwei Stunden, und mit dem neuen Schlamassel heute morgen haben Sie Glück, wenn Sie überhaupt durchkommen.« »Neuer als die Geschichte in Afrika?« fragte ich.
»Klar. Ein hoher Beamter ist übergelaufen. In Birmingham, ausgerechnet. Schock, Entsetzen, Drama und so weiter. Ist es wichtig?«
»Ich möchte meinen Tierarzt anrufen ... wegen meiner Pferde«, sagte ich. »Würde ich von der Botschaft aus durchkommen?«
»Das möchte ich bezweifeln. Meister im Behindern, die Russen. Mauerspezialisten.« Er gähnte. »Haben Sie gestern Ihr Fernschreiben bekommen?«
»Ja, danke.«
»Machen Sie das beste draus.« Er gähnte wieder. »Wollen Sie mir helfen, meinen Kater zu bekämpfen? So gegen Mittag?«
»Warum nicht?«
»Gut ... Gehen Sie an Olivers Büro vorbei, und am Tennisplatz ... meine Wohnung liegt dahinter, zweite Tür links.« Er legte mit der ganzen Sachtheit des schwer Verkaterten auf.
Es hatte vorübergehend aufgehört zu schneien, obwohl der Himmel ölig grau-gelb drohte und die Kälte einem den Tropfen an der Nase gefrieren ließ. Wir waren kaum hundert Schritte gegangen, als ich zu husten und nach Atem zu ringen begann. Stephen fand das seltsam.
»Was ist los?« fragte er. Seine Lungen pumpten fröhlich wie ein elektrischer Blasebalg.
»Taxi .«
Ohne große Schwierigkeiten kriegten wir eins, und in seiner relativen Wärme und mit Hilfe des Tascheninhalators, den ich immer bei mir hatte, hörte die gräßliche Atemnot auf.
»Geht es Ihnen immer so, wenn es kalt ist?« fragte Stephen.
»Kommt drauf an. Der Fluß tat auch nicht gerade gut.«
Leicht besorgt betrachtete er mich. »Haben Sie sich etwa erkältet? Wenn ich es mir recht überlege ... es wäre kein Wunder.«
Unterwegs hielten wir zweimal an. Einmal um zwei Flaschen Wodka zu kaufen; eine für Kropotkin und eine für später. Das zweitemal, um wieder eine Mütze zu kaufen, die meine zusammengewürfelte Bekleidung vervollständigen sollte, welche jetzt, von innen nach außen, aus einem Unterhemd, einem Hemd, zwei Sweatern, einer Jacke und Stephens zweitem Mantel bestand, der mir eine Nummer zu klein war und aus dem meine Handgelenke wie die eines Waisenkindes herausragten.
Die Hauptstraßen waren bereits vom nächtlichen Schnee geräumt, aber die Rennbahn selbst war weiß. Trotzdem waren Pferde auf der Bahn, und sogar ein oder zwei Traber vor ihren Sulkys. Praktisch vor der Stalltür bezahlten wir das Taxi, gingen hinein und fragten nach Kropotkin.
Er wartete in einem kleinen, dunklen Büro auf uns, das sonst von einem Trabertrainer benutzt wurde. Haufenweise lagen Reifen herum, die in einem Stall reichlich fehl am Platz wirkten, bis einem die Räder der Sulkys einfielen. Darüber hinaus gab es nur noch einen Schreibtisch mit einer Menge Papierkram, einen Stuhl und viele an die Wand gepinnte Fotos.
Nikolai Alexandrowitsch griff erfreut nach meiner hastig gebotenen linken Hand und schüttelte sie herzhaft.
»Freund«, sagte er, und sein tiefer Baß dröhnte in dem kleinen Raum. »Guter Freund.«
Er akzeptierte den Wodka als die höfliche Geste, die er darstellen sollte. Dann rückte er mir zeremoniell den Stuhl zurecht und machte es sich mit der Hälfte seiner Kehrseite auf dem Schreibtisch bequem. Stephen, so schien es, konnte auf seinen eigenen zwei Beinen stehen: und via Stephen tauschten Kropotkin und ich weitere einleitende Höflichkeiten aus.
Zur gegebenen Zeit kamen wir zum Kern der Sache.
»Mr. Kropotkin sagt«, sagte Stephen, »er hat jeden in der Pferdewelt gebeten, in der Sache Aljoscha behilflich zu sein.«
Ich gab meiner Dankbarkeit Ausdruck und spürte eine leichte Beschleunigung meines Pulsschlags.
»Dennoch«, fuhr Stephen fort, »weiß niemand, wer Aljoscha ist. Niemand weiß etwas über ihn. Keiner kennt ihn.«
Mein Pulsschlag wurde mit deprimierender Geschwindigkeit wieder normal.
»Nett, daß er es versucht hat«, sagte ich seufzend.
Kropotkin strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Schnurrbart, dann ließ er wieder die tiefe Stimme dröhnen.
Stephen übersetzte mit ausdruckslosem Gesicht, aber jetzt funkelte Interesse in seinen Augen.
»Mr. Kropotkin sagt, obwohl niemand weiß, wer Aljoscha ist, hat jemand ihm ein Blatt Papier geschickt, auf dem der Name Aljoscha steht, und das Blatt Papier kam ursprünglich aus England.«