Nach seinem Wutausbruch schwieg Rione eine Weile. »Ich weiß, du hast dir Unterlagen über Falcos Vergangenheit angesehen, aus der Zeit vor seiner Gefangenschaft in den Händen der Syndiks. Du hast seine Reden gesehen, in denen er seine angeblich so großartigen Siege feierte, bei denen Dutzende von Allianz-Schiffen zerstört worden waren, nur um bestenfalls genauso viele Schiffe der Syndiks zu vernichten. Glaubst du, er würde auch nur eine Sekunde lang den Verlust von ein paar Schlachtschiffen betrauern?«
»Darum geht es nicht«, konterte Geary verbittert.
»Nein, natürlich nicht. Du beurteilst dich selbst nicht im Verhältnis zu Leuten wie Falco.« Sie atmete tief durch. »Soweit ich das beurteilen kann, sind diese drei Offiziere tatsächlich auf ihren Schilfen ums Leben gekommen.«
Der Gedanke, es könnte nicht so gewesen sein, war ihm bislang noch gar nicht gekommen. »Gibt es einen Grund zu der Annahme, dass sie nicht ums Leben gekommen sind?«
Sie lächelte ihn humorlos an. »Ein argwöhnischer Geist.
Hätte Captain Faresa Zeit gehabt, dann wären ihre Sympathi-santen unter der Besatzung sicherlich auf die Idee gekommen, ihr die Flucht von der Majestic zu ermöglichen. Diejenigen, die Falco für ihre Zwecke benutzen wollten, könnten versucht haben, ihn von der Warrior zu schaffen, aber…« Wieder hielt sie inne. »Ein Narr und ein Verrückter. Aber sein letzter Akt bestand darin, sich zu weigern, die Warrior zu verlassen, als ihm die Gelegenheit dazu geboten wurde. Hast du davon nichts mitbekommen? Ein paar Augenzeugen haben überlebt. Falco erklärte, sein Pflichtgefühl verlange von ihm, auf der Warrior zu bleiben. Ob ihm wirklich klar war, was sich um ihn herum abspielte, kann man nicht wissen, aber man sollte von den Toten nicht schlecht reden, also können wir einfach annehmen, dass er es wusste.«
Geary fiel es nicht schwer, das zu glauben. Nur zu deutlich konnte er sich vorstellen, wie Captain Falco durch die zer-schmetterten Gänge der Warrior lief, während er mit einstu-dierter, zuversichtlicher Miene seinen Offizieren und Matrosen Mut zusprach, die nichts anderes tun konnten, als auf ihr Ende zu warten. Es war die ideale theatralische Rolle für einen Mann wie Falco, und falls er lange genug klar bei Verstand gewesen war, dann hatte er womöglich die Chance willkommen geheißen, als toter Held zu enden, anstatt vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Abgesehen davon, ob er bewussl oder unbewusst gehandelt hatte, hatte er in jedem Fall einen ehrbaren Tod gewählt und seinen Platz in einer der Rettungskapseln jemandem überlassen, der an seiner Stelle weiterle-ben durfte. »Niemand weiß, was ihm als Letztes durch den Kopf gegangen ist, also sehe ich keinen Grund, warum ihm nicht diese letzte Ehre erwiesen werden sollte.« Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er stutzte kurz. »Stimmt das? Es hat niemand überlebt, der lange genug bei ihm war, um dazu etwas sagen zu können?«
Rione runzelte die Stirn. »Woher soll ich das wissen?«
»Du hast ganz offensichdich Aussagen von Augenzeugen gehört. Auf diesen Schiffen musst du auch deine Spione gehabt haben.«
Ihre Mundwinkel zuckten, aber dann setzte sie eine ausdruckslose Miene auf. »›Gehabt haben‹ ist richtig. Einer von Ihnen hat sich von der Warrior retten können. Das Ende der Majestic hat niemand überlebt, wie du selbst gesagt hast.«
Oh, verdammt. »Ich habe gar nicht daran gedacht, dass deine Spione zusammen mit allen anderen umgekommen sind, die auf diesen Schiffen waren. Das tut mir leid.«
Sie nickte nur, zeigte aber nach wie vor keine Gefühlsregung. »Sie mussten mit den gleichen Risiken leben wie jeder in der Flotte.«
Geary musterte sie, seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. »Manchmal benimmst du dich wie ein kaltblütiges Miststück.«
Sie reagierte mit einem neutralen Blick. »Das heißt, dir sind warmblütige Miststücke lieber?«
»Verdammt, Victoria…«
Abwehrend hob sie ihre Hand. »Jeder von uns verarbeitet seinen Schmerz anders,John Geary. Du und ich, wir gehen damit grundverschieden um.«
»Das kannst du laut sagen.« Er sah zu Boden und wusste, dass er noch immer eine nachdenkliche Miene machte. Da war eine Sache, die ihm zu schaffen machte, aber die er bislang nicht hatte einordnen können. Es hatte etwas mit den Verlusten der Flotte zu tun. Majestic, Warrior, Utap, Vambrace…
Vambrace?
Ihm musste anzusehen sein, dass ihn die Erkenntnis getroffen hatte, denn Rione fragte in einem sanfteren Tonfalclass="underline" »Was ist jetzt los?«
»Mir ist nur gerade etwas eingefallen.« Der Schwere Kreuzer Vambrace war das Schiff, auf das Lieutenant Casell Riva von der Furious versetzt worden war. Fast zehn Jahre hatte er in einem Arbeitslager der Syndiks zugebracht, bis Gearys Flotte ihn befreit und ihn nach Lakota mitgenommen hatte. Und jetzt war er möglicherweise tot. Geary versuchte sich ins Ge-dächtnis zu rufen, wie viele Besatzungsmitglieder von der Vambrace entkommen waren, bevor die explodierte. War Riva unter ihnen gewesen? Geäußert hatte sich Desjani dazu nicht, auch wenn sie deutlich früher als er zu der gleichen Erkenntnis gekommen sein musste.
»Und was?«, hakte Rione nach.
»Das ist eine vertrauliche Personalangelegenheit.« Er musste sorgfältig formulieren, damit es für sie einen Sinn ergab, ohne ihr mehr sagen zu müssen. »Tut mir leid, dass ich dir vorhin so ins Gesicht gesprungen bin.« Rione schwieg so lange, dass Geary schließlich den Kopf hob und sie ansah.
»Was ist?«
»Kannst du weitermachen?«
»Natürlich kann ich das.«
»Natürlich?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben wieder schwere Verluste erlitten, und ich weiß, dass die Zerstörungen auf dieser bewohnten Welt schwer auf dir lasten. Nachdem du das Kommando über diese Flotte übernommen hattest, hast du lange Zeit auf Messers Schneide gestanden, immer bereit, dich fallen zu lassen, wenn der Druck zu groß wird. Du warst Verluste in solchen Größenordnungen nicht gewöhnt, obwohl sie für die Allianz seit Langem zum Alltag gehören. Du hast jemanden gebraucht, der dich gestützt hat, der dir geholfen hat weiterzumachen, und eine Weile war das meine Rolle-als Verbündete und als Widersacherin, die dich herausfordert.
Aber das ist jetzt nicht mehr meine Rolle.«
»Wie bitte?« Er musterte sie und versuchte zu begreifen, was Rione ihm sagte.
»Wofür kämpfst du?«, fragte sie und wandte sich wieder dem Sternendisplay zu.
»Für die Leute in dieser Flotte. Für die Allianz. Das weißt du.«
»Ich weiß, dass das abstrakte Begriffe sind. Du weißt bestenfalls einen winzigen Bruchteil über die Leute in dieser Flotte.
Die Allianz, wie du sie kanntest, hat sich verändert, dein eigenes Zuhause hat sich auf eine Weise verändert, von der ich weiß, dass sie dir Sorgen bereitet.« Sie schaute ihn an. »Du kämpfst nicht für etwas Abstraktes. Niemand macht das. Die Leute erzählen, dass sie für eine wichtige Sache eintreten, aber jeder einigermaßen gute Politiker findet sehr bald heraus, dass es die kleinen, persönlichen Dinge sind, die die Menschen zum Handeln motivieren. Gute Freunde, Familie, das kleine Gebiet, das sie als ihr Zuhause bezeichnen. Solche Dinge erheben sie zu Idealen und bezeichnen sie als kostbar, aber kostbar sind sie aus ganz persönlichen Gründen. Soldaten legen zwar ihren Eid auf die Flagge ab, aber in Wahrheit kämpfen sie nur wegen der anderen Soldaten um sie herum.
Du hast etwas ähnlich Persönliches hier in der Flotte gefunden, John Geary. Hier in der Flotte existiert eine persönliche Verbindung, die dir die Kraft und die Entschlossenheit gibt, um weiterzumachen.«
Geary sah sie lange an. »Und was für eine Verbindung soll das sein?«