Eine illegale Operation also. Geary fragte sich, ob die Bewohner von Branwyn wohl dem heimgesuchten Lakota-System helfen würden. »Schicken wir ihnen die Aufzeichnungen von den Ereignissen bei Lakota und den Notruf, der von der bewohnten Welt ausgesendet wurde. Was wird eigentlich geschehen, wenn die Syndik-Behörden oder das Militär von dem Treiben hier erfahren?«
Rione zuckte mit den Schultern. »Einigen von ihnen ist das längst bekannt, aber ich kann mir vorstellen, dass Beste-chungsgelder für die maßgeblichen Leute dafür sorgen, dass das Wissen nicht weiter verbreitet wird. Allerdings könnte unser Flug durch das System zu viel Aufmerksamkeit auf das lenken, was sich hier abspielt.«
Nach einem Blick auf das Steuerdisplay erwiderte Geary:
»Wir benötigen nur vier Tage, um den Sprungpunkt nach Wendig zu erreichen. Die Hilfsschiffe verarbeiten bereits die Rohstoffe, die wir bei Lakota erbeuten konnten. Glauben Sie, wir können den Syndiks so weit vertrauen, dass sie uns Rohstoffe liefern, wenn wir sie von ihnen fordern, ohne dass sie darin eine böse Überraschung für uns verstecken?«
»Sie wollen einem Haufen Piraten vertrauen? Wie viel Gewinn können Sie denen anbieten?«
»Überhaupt keinen.«
»Dann wissen Sie jetzt auch, wie weit Sie ihnen vertrauen können.«
Da die Syndik-Präsenz in Branwyn alle Anzeichen für eine hastige Evakuierung des Systems erkennen ließ, der Allianz-Flotte gegenüber aber keine Drohungen ausgesprochen wurden, ver-fiel Geary in Rastlosigkeit. Da er nicht länger stillsitzen und nachdenken konnte, unternahm er lange Spaziergänge durch die Korridore der Dauntless. Schlachtkreuzer waren große Schiffe, aber zugleich doch so klein, dass er bei seinen Ausflügen wiederholt Captain Desjani begegnete, die einerseits ebenfalls Ruhe zum Nachdenken suchte, andererseits aber auch darauf achten musste, von ihrer Crew gesehen zu werden.
Ironischerweise waren solche Treffen mit Desjani die beste Verteidigung gegen die Gerüchte über eine Beziehung, die man ihnen beiden nachsagte. Hätte man sie nicht gesehen, wie sie gemeinsam im Schiff unterwegs waren und sich unterhielten, wäre schnell spekuliert worden, dass sie sich wohl irgendwo im Verborgenen trafen, wo niemand sie beobachten konnte.
Die Unterhaltungen betrafen meistens dienstliche Themen: den Krieg, die Führung des Schiffs, die Vor- und Nachteile verschiedener Schiffstypen, Taktiken, Logistik, Personalange-legenheiten und die Frage, welches Ziel die Flotte als Nächstes ansteuern sollte. Nichts davon konnte jemand, der sie zufällig belauschte, für ein privates Gespräch halten, auch wenn Desjani mit großer Leidenschaft über diese Dinge redete, weil es für sie das Größte war, ein Flottenoffizier zu sein.
Aber je öfter sie sich unterhielten, umso mehr erzählte Desjani von ihrer Heimatwelt Kosatka und vom Allianz-Gebiet im Allgemeinen, von ihrer Familie und ihren Freunden — und nach und nach brachte sie Geary dazu, selbst auch über diese Dinge zu reden. Dabei musste er feststellen, dass er Erinnerungen zutage förderte, die er für zu schmerzhaft gehalten hatte; Gedanken an Menschen und Orte, die längst nicht mehr existierten. Es überraschte ihn, dass diese Ausflüge in sein Gedächtnis nicht nur etwas Melancholisches, sondern auch etwas Befreiendes hatten.
»Sie sprachen vor einer Weile davon, dass Sie jemanden an Bord der Dreadnought kennen«, begann Desjani bei einem dieser Spaziergänge, bei dem sie einen langen, zu den Antriebseinheiten führenden Korridor entlangschlenderten. Es war tiefe Schiffsnacht, und nur gelegentlich begegneten sie einem Matrosen oder einem Offizier, der noch etwas zu erledigen hatte.
Ihre Bemerkung wühlte frischere, schmerzhaftere Erinnerungen auf, die bis ins Heimatsystem der Syndiks zurück-reichten. »Ja«, bestätigte Geary leise. »Meine Großnichte. Die Schwester von Captain Michael Geary. Er hat mir eine Nachricht für sie mitgegeben.«
Desjani warf einen Blick auf ihre Datentafel. »Commander Jane Geary? Sie befindet sich nicht nur an Bord der Dreadnought, sie ist auch die Befehlshaberin.« Dann stutzte sie. »Ein Schlachtschiff, das von einer Geary befehligt wird? Das ist irgendwie eigenartig. Aber ich habe nie irgendetwas Negatives über sie zu hören bekommen.«
Geary bemühte sich, nicht zu schnauben. Die moderne Flotte schickte ihre besten Offiziere auf die Schlachtkreuzer, mit denen sie allen voran in die Schlacht zogen, um als Erste zu sterben. »Vielleicht stellt man unmöglich hohe Erwartungen an sie.«
»Sie meinen, man misst sie an ihrem legendären Großonkel?«, fragte Desjani und begann zu lächeln. »Das ist denkbar.« Dann wurde sie wieder ernst. »Und wenn wir zurückkehren, müssen Sie ihr erzählen, dass ihr Bruder vermutlich tot ist. Das tut mir leid.«
»Das wird nicht leicht werden.«
»Aber Sie sagten, Sie sollen ihr eine Nachricht überbrin-gen, richtig?«
»Ja. Es war so ziemlich das Letzte, was er mir mitteilen konnte, bevor die Repulse zerstört wurde.« Er dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, wenn es außer den Gearys einen Menschen gab, der diese Nachricht verstehen konnte, dann war es wohl Desjani. »Ich soll ihr ausrichten, dass er mich nicht mehr hasst.«
Sie machte eine entsetzte Miene, die gleich darauf einen nachdenklichen Ausdruck annahm. »Die unmöglich hohen Erwartungen… Michael Geary hat Sie gehasst, weil man diese Erwartungen an ihn gestellt hatte, richtig?«
»So hat er es ausgedrückt.« In der kurzen Zeit, in der er mit seinem Großneffen hatte reden können, war ihm kaum Gelegenheit geblieben, ein anderes als dieses Thema anzuschnei-den.
»Aber er hat seine Meinung geändert.« Desjani sah Geary lange an. »Weil er die Repulse eingesetzt hat, um den Feind aufzuhalten. Ein letzter Versuch der Nachhut, dem Rest der Flotte die Flucht zu ermöglichen. Es war das Gleiche, was Sie damals auch gemacht haben. Dann hat er Ihr Handeln also verstanden, oder?«
»Ja.« Es war für ihn eine große Erleichterung, diese Geschichte mit einem anderen Menschen zu teilen. Tanya Desjani hatte verstanden, was er sagen wollte, aber das war auch kein Wunder. »Ihm war klar geworden, dass ich das nicht gemacht habe, weil ich mich für einen Helden hielt oder weil es mir um Ruhm ging. Ich tat das, weil viele andere auf mich zählten. Weiter nichts.«
»Und er musste ganz genauso handeln.« Sie nickte bestätigend. »Dafür muss man schon ein Held sein, Sir.«
»Nein, das muss man nicht.« Geary zuckte mit den Schultern und spürte, wie sich ein alter Schmerz regte, als er an den Tod seines ehemaligen Schiffes vor einhundert Jahren und an die Trauer um den Verlust so vieler Schiffe dieser Flotte denken musste, die sich alle in der gleichen hoffnungslosen Position befunden hatten. »Es ist purer Zufall, ob man in eine solche Situation gerät oder nicht.«
»Mag sein.« Desjani warf ihm einen ernsten Blick zu. »Aber wie sich jemand verhält, der sich in dieser Situation befindet, das hat mit Zufall nichts zu tun, Sir. Er trifft dann eine Entscheidung, so wie es jeder von uns macht. Diese Entscheidungen bestimmen, wer wir sind. Ich weiß, Sie hören das nicht gern, aber Sie sind ein Held, Sir. Wären Sie das nicht, dann hätten die Leute Sie längst durchschaut.«
»Ich bin ein Mensch, Tanya.«
»Ja, natürlich. Und das macht Sie doch zum Helden. Menschen fürchten sich vor Tod und Schmerz, und wenn wir diese Angst überwinden, um andere zu beschützen, dann haben wir etwas geleistet, worauf wir stolz sein können.«
Verdutzt ging Geary ein paar Schritte weit, ehe er erwiderte:
»So habe ich das noch nie gesehen. Sie können wirklich gut mit Worten umgehen, wissen Sie das? Kein Wunder, dass Ihr Onkel Sie in seiner Literaturagentur haben wollte.«
Sie sah zu Boden und lächelte wehmütig. »Mein Schicksal lag inmitten der Sterne, Captain Geary. Ich glaube, so habe ich immer schon empfunden.«
»Irgendeine Ahnung, wieso?«
»Nein. Aber die Sterne haben mich stets zu sich gerufen. Es ist eigenartig, dass ich als kleines Mädchen in die grenzenlose Leere des Weltalls geblickt und bereits damals daran geglaubt habe, dort das zu finden, was für mich wirklich wichtig ist.