Noch nicht, wie Tante Luisa sagte.
„Schade, daß es hier keinen Sumpf gibt“, sagte Marjana, „ich würde euch schon die nötigen Gräser sammeln.“
„Und warum hast du’s nicht eher getan?“ fragte Oleg.
Marjana kannte sich im Dorf am besten von allen in Kräutern aus, sie schien sie förmlich mit der Haut zu spüren.
„Du bist vielleicht komisch“, erwiderte Marjana erstaunt. „Dieses Gras muß man sofort essen, solange es noch frisch ist, wie willst du es denn aufheben?“ Sie wunderte sich immer, daß andere nicht sahen, was für sie augenscheinlich war. Oleg schaute sich um. Wenn es hier Sümpfe gab, waren sie über Nacht zugefroren. Doch wahrscheinlich existierten gar keine — dieses Gelände lag höher als die Siedlung, war trockener und steiniger.
„Oleshka“, rief Thomas, „komm mal her.“ Er hatte sich hingesetzt und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Wieder mal der Rücken“, sagte er, „mein Hexenschuß.“
„Ich reib Sie nachher ein“, erbot sich Marjana.
„Danke, aber es hilft nicht“, Thomas lächelte gequält.
Er ähnelte einem Raben, wie ihn der Alte im Biologieunterricht immer zeichnete: ein dunkler Vogel mit großer spitzer Nase. „Sag mal, du weißt doch noch, wo ich die Karte aufbewahre? Für den Fall, daß mir was zustößt.“
„Ihnen wird nichts zustoßen“, erwiderte Oleg, „wir sind doch zusammen.“
„Trotzdem wollen wir kein Risiko eingehn. Verstehst du dich aufs Kartenlesen?“
Die Skizze befand sich auf einem kleinen Blatt Papier, dem wertvollsten Gut im Dorf. Oleg verspürte gegenüber Papier stets ein merkwürdiges, besonderes Gefühl. Papier, selbst ein unbeschriebenes Blatt, war auf Zauberart mit Wissen verbunden, dazu geschaffen, Wissen auszudrücken, so etwas wie eine göttliche Offenbarung.
Thomas, immer wieder von Husten geschüttelt, ließ Oleg auf der Karte die Route zum Gebirgspaß nachvollziehn. Der Weg war bekannt; sie alle hatten ihn zusammen mit Waitkus und dem Alten mehrmals durchgesprochen. Freilich war es eine Sache, die Strecke in der Siedlung durchzugehen, etwas völlig anderes jedoch, sie dann in der Praxis zurückzulegen, die Entfernung und die Kälte zu spüren. Denn im Haus war es warm gewesen, die Lampen hatten behaglich gebrannt, und draußen hinter der Wand war leise rauschend der Regen herabgeströmt … Dick kam mit einem Hasen zurück. Der Ziegenbock geriet beim Anblick des kleinen leblosen Körpers in Panik und stürzte mit großen Sprüngen zum Hang davon, wo er stehenblieb und verwundert den Kopf schüttelte.
„Er ahnt, was ihn erwartet“, sagte Dick und warf den Hasen auf die Steine. „Wir wollen ihn lieber gleich essen, dann macht das Laufen mehr Spaß. Dir, Thomas, tut es auch gut. Noch besser wär es ja, wenn du tüchtig von dem heißen Blut trinken würdest, das mache ich während der Jagd immer. Aber das willst du wahrscheinlich nicht, oder?“
Thomas schüttelte den Kopf.
„Und was treibt ihr da“, erkundigte sich Dick, „studiert ihr die Karte?“
„Thomas bestand darauf, daß ich den Weg nochmals durchgehe. Für den Fall, daß ihm was passiert.“
„Ist doch Unsinn“, sagte Dick, ging in die Hocke und begann geschickt den Hasen auszunehmen, „du hältst schon noch eine Weile durch. Sollte es schlechter werden, kehren wir um.“ Oleg begriff, daß Dick den anderen nicht kränken wollte. Er hatte ja mit seiner Meinung, Thomas könnte unterwegs schlappmachen, von Anfang an nicht hinterm Berg gehalten.
„Trotzdem“, erwiderte Thomas und gab mit keiner Regung zu erkennen, daß ihm der gleichgültige Ton Dicks unangenehm war, „sicher ist sicher.“
Als sie dann Tee tranken — heißen Wurzelaufguß —, faßte sich der Ziegenbock ein Herz und kam näher, freilich nicht von jener Seite, wo Dick das Hasenfell hingeworfen hatte, sondern von der anderen; er schirmte sich durch Zelt und Lagerfeuer gleichsam dagegen ab. Der Bock seufzte schwer, und Marjana warf ihm ein paar getrocknete Pilze hin.
„Das muß nun wirklich nicht sein“, sagte Dick, „wir brauchen die Pilze selber. Durchaus möglich, daß wir keine mehr finden — wie sollen wir dann den Rückweg überstehn?“
„Hinter dem Gebirgspaß gibt es genug Nahrung“, sagte Thomas.
„Wer weiß, ob das noch jetzt so ist“, erwiderte Dick.
„Wär doch dumm, zu verhungern. Bei Kälte sollte man überhaupt viel essen.“
„Im Notfall verspeisen wir den Ziegenbock“, sagte Oleg. „Was heißt im Notfall?“ sagte Dick. „Wir verspeisen ihn in jedem Fall. Und zwar schon bald, bevor er das Weite sucht.“
„Das schlag dir aus dem Kopf“, sagte Marjana, „es kommt nicht in Frage.“
„Aber warum denn nicht?“ fragte Dick verwundert.
„Weil er ein gutes Tier ist. Er wird mit uns in die Siedlung zurückkehren und bei uns leben. Es wird sowieso Zeit, daß wir ein paar Haustiere halten.“
„Solche Ziegenböcke kann ich dir jede Menge anschleppen“, sagte Dick.
„Stimmt nicht, du gibst bloß an. So oft findet man sie im Wald gar nicht, und gegen ihren Willen schaffst du’s erst recht nicht.“
„Sie ranzuschleppen ist schwer, das stimmt. Aber wir gehen zusammen, du kannst ja gut mit Tieren umgehn“, sagte Dick und begann den Hasen in gleiche Teile zu zerlegen, damit keiner zu kurz kam.
„Ich laß es nicht zu, daß du ihn tötest“, sagt Marjana, „er bekommt bald Junge.“
„Wer?“ fragte Oleg verblüfft.
„Der Ziegenbock“, antwortete Marjana, „er ist nämlich eine Sie.“
„Was denn, es ist eine Ziege?“ fragte Thomas.
„Ja doch, eine Ziege, da bin ich ganz sicher.“
„Marjana hat recht, wenn es eine Ziege ist, soll sie am Leben bleiben“, sagte Thomas. „Es könnte ein erfolgversprechendes Experiment werden. Man muß stets ans Morgen denken.“
„Man sollte aber auch daran denken, wie man heute überlebt“, entgegnete Dick.
„Wir füttern die Ziege ein bißchen“, sagte Marjana.
„Untersteh dich!“ empörte sich Dick.
„Ich geb ihr meine Ration.“ Marjana, das Kinn vorgereckt, sah Dick starrsinnig an. Dick neigte den Kopf; er betrachtete das Mädchen, als sei sie ein kleines unbekanntes Tier.
Thomas erhob sich als erster und machte sich daran, das Zelt zusammenzupacken. Es schüttelte ihn.
„Und wenn du nun umkehrst?“ sagte Dick.
„Dazu ist es zu spät“, erwiderte Thomas, „ich komme mit.“
„Also hör mal“, schimpfte Marjana mit Dick, „wie kannst du so etwas vorschlagen. Einer allein erreicht Siedlung nie.“
„Oleg kann ihn ja begleiten.“
Dick sagte das nur, um das letzte Wort zu haben. Dabei hatte in Wirklichkeit immer Marjana das letzte Wort.
„Es wird Zeit, wir müssen los“, sagte Thomas. „Wenn wir heute gut vorankommen, schaffen wir’s vielleicht bis zur Hochebene. Voriges Mal sind wir in dieser Schlucht steckengeblieben. Wir sanken bis zum Gürtel im Schnee ein, und es stürmte heftig.“ Thomas ging voran, an dem breiten Bach entlang, der sich bei starken Regenfällen gewiß in einen reißenden Strom verwandelte. Jetzt dagegen plätscherte er nur leise über die abgeschliffenen Steine dahin und riß die über Nacht entstandenen kleinen Eisschollen von den Ufern.
Die Ziege stürmte zunächst vorweg, als wollte sie ihnen den Weg zeigen, dann jedoch überlegte sie es sich anders und blieb stehen. Dick drohte ihr mit dem Finger, da seufzte sie auf und trottete hinter den Leuten her, nicht ohne zwischendurch zu bocken und langgezogen zu jaulen, was wohl Umkehren heißen sollte.