Bis Einbruch der Dunkelheit brachten sie die Hochebene hinter sich und erreichten das Gebirgsvorland.
In der Nacht wurde es kälter, fiel die Temperatur unter Null. Dick und Oleg schliefen außen, Marjana und Thomas in der Mitte. Thomas hatte sich im Laufe des Tages so verausgabt, daß er nicht mal protestierte. Er glühte, konnte aber dennoch nicht warm werden, und als er bald darauf von trockenem Husten geschüttelt wurde, nahm Oleg ihn in die Arme, versuchte ihm von seiner Wärme abzugeben.
Marjana gab ihm eine Hustenmixtur zu trinken, die sie selbst gebraut hatte. Das Mädchen konnte nicht schlafen und unterhielt sich, um die Nacht zu verkürzen, flüsternd mit Oleg. Dick störte das, und er fauchte demonstrativ.
Schließlich sagte er: „Morgen gibt’s keine Tagesrast, ist das klar?“
„Na und?“ erwiderte Oleg. „Ich laß euch marschieren, und wenn ihr noch so pennen wollt.“
„Keine Bange“, sagte Oleg, „unsretwegen wird’s keine Verzögerung geben.“
„Egal, wegen wem.“
Oleg widersprach nicht, obwohl er genau begriff, daß Thomas gemeint war. Er dachte, der Kranke schliefe und höre es nicht, doch das war nicht der Fall. Thomas sagte: „Ich glaube, ich habe eine Lungenentzündung.
Entschuldigt, Freunde, daß alles so dumm gekommen ist.“
Sie hatten das Zelt in einer großen Felsnische aufgeschlagen, denn hier war es wärmer als auf offenem Gelände. Die Ziege machte sich neben ihnen zu schaffen, wühlte raschelnd im Boden.
„Was sucht sie bloß?“ flüsterte Marjana.
„Schnecken“, antwortete Oleg. „Ich hab gesehen, wie sie eine gefunden hat.“
„Ich dachte, den Schnecken wär’s hier zu kalt.“
„Wir leben ja auch, folglich können’s andere genauso.“
„Hier gibt's nicht das geringste“, knurrte Dick, „schlaft jetzt.“
Thomas begann wieder zu husten, und Marjana gab ihm erneut zu trinken. Man hörte seine Zähne gegen den Becherrand schlagen.
„Du solltest doch lieber umkehren“, sagte Dick.
„Zu spät“, erwiderte Thomas, „bis zur Siedlung schaffe ich es nie.“ „Du bist ein Dummkopf, Dick“, sagte Marjana „hast unsere Gesetze vergessen.“
„Ich habe gar nichts vergessen“, widersprach Dick laut.
„Ich weiß, daß wir uns um die Kranken kümmern müssen.
Ich weiß, was Pflicht bedeutet, weiß es nicht schlechter als du. Andererseits ist mir immer wieder eingebleut worden: Wenn wir’s diesmal nicht zum Paß schaffen, wenn wir nicht Eisen und Instrumente herbeischleppen, kann es das Ende der Siedlung bedeuten. Das hab nicht ich mir ausgedacht. Ich glaub sowieso nicht, daß die Siedlung zu zugrunde geht. Wir leben auch ohne Eisen und ähnliche Dinge ausgezeichnet. Ich kann mit meiner Armbrust einen Bären auf hundert Schritt Entfernung erlegen.“
„Kunststück“, sagte Oleg, „hast schließlich Eisenspitzen auf den Pfeilen. Wenn Sergejew sie nicht geschmiedet hätte, möcht ich dich den Bären mal erlegen sehn.“
„Ich kann solche Spitzen auch aus Stein herstellen. Es geht nicht ums Material, sondern ums Geschick. Jetzt aber scheucht man uns in diese Berge …“
„Niemand scheucht dich, du bist freiwillig mitgegangen“, erwiderte Oleg.
„Also gut, freiwillig. Ich hab ja auch keine Angst, nur ihr wißt selber — in ein paar Tagen gibt’s Schnee, und wenn wir uns weiterhin so langsam bewegen, kommen wir nie über den Paß. Möglicherweise auch nie wieder zurück.
Das aber wäre ausgesprochen dumm.“ „Was also schlägst du vor?“ fragte Oleg. Weder Thomas noch Marjana mischten sich in ihren Streit ein, hörten nur aufmerksam zu. Oleg kam es so vor, als sei sogar die Ziege still geworden, um zu lauschen.
„Ich schlage vor, daß Marjaschka und Thomas hierbleiben. Wir geben ihnen Decken und Nahrung, lassen ihnen alles da, wir beide aber laufen ohne jedes Gepäck zum Paß.“
Oleg gab keine Antwort. Er begriff, daß sie Thomas unter keinen Umständen zurücklassen durften. Sie durften ihm sein Ziel nicht nehmen, das würde ihn töten … Wenn Dick nun aber dachte, er, Oleg, hätte Angst, mit ihm allein weiterzugehn?
„Hast wohl Angst gekriegt?“ fragte Dick.
„Nicht um mich“, erwiderte schließlich Oleg. „Wenn Thomas krank ist, kann er Marjana nicht beschützen. Und Marjana ihn ebensowenig. Was aber ist, wenn Tiere kommen? Raubtiere? Wie soll sie mit ihnen fertig werden?“
„Du wirst doch mit ihnen fertig, Marjaschka?!“ Dick fragte nicht, er befahl, als hätte er das Recht, Befehle zu erteilen.
„Ich schaffe es schon“, sagte Thomas, „habt keine Angst, Freunde, ich schaffe es. Ich muß einfach … ich geh doch seit sechzehn Jahren zum Paß, versteht ihr, seit sechzehn Jahren …“ Thomas sprach hastig, mit heißer Stimme, wie unter Tränen.
„Dann schlaf jetzt“, sagte Dick nach einer längeren Pause, in der niemand sprach, niemand ihm zustimmte oder ihn vom Gegenteil überzeugte.
Am nächsten Morgen aber fand die Auseinandersetzung ganz von allein ein Ende. Aus einem einfachen Grund.
Oleg stand als erster auf: mit schmerzendem Kopf und Beinen wie aus Holz; sein Rücken war eiskalt bis hin zur Wirbelsäule. Er kroch aus der Nische und entdeckte auf der weißen Fläche des Hochplateaus eine Reihe von Vertiefungen, die er nicht sofort als Fährte erkannte. Es sah aus, als hätte jemand große Fässer in den Schnee gedrückt.
Oleg weckte Dick, und sie verfolgten vorsichtig die Spuren. Die Fährte endete an einem Steilhang — das unbekannte Wesen konnte demnach Felsen erklimmen.
„Was ist das für ein Tier?“ fragte Oleg flüsternd.
„Keine Ahnung. Aber wenn es sich auf ein Haus legt, wird’s zerquetscht“, sagte Dick. „So ein Vieh zu erlegen, das wär was!“
„Da gibt’s wohl wenig Hoffnung, trotz deiner Armbrust“, wandte Oleg ein. „Dein Pfeil durchbohrt ihm nicht mal das Fell.“
„Ich werd mir schon Mühe geben“, sagte Dick. „Gehen wir zurück?“
„Weißt du, ich möchte Thomas und Marjaschka wirklich nicht gern hier lassen“, sagte Oleg. „Ich bestehe nicht darauf“, sagte Dick, „obwohl sich’s bei diesem Tier durchaus um einen Pflanzenfresser handeln kann.“
„Selbst wenn’s ein Wandergewächs wie der Wegerich wäre“, erwiderte Oleg, „wir dürfen kein Risiko eingehn.“
„Wo habt ihr gesteckt?“ erkundigte sich Marjana, die beim Feuermachen war. „Thomas’ Temperatur ist zurückgegangen, ist das nicht schön?“
„Sehr schön.“
Sie erzählten von der Fährte, denn das Mädchen hätte sie ohnehin entdeckt. Doch Marjana erschrak kein bißchen — klar, daß es hier alle möglichen Tiere gab! Wenn man richtig mit ihnen umging, waren sie längst nicht alle böse und gefährlich. Außerdem beschäftigte sie sich mit ihren eigenen Angelegenheiten.
„Setzt euch“, sagte Marjana, „wir wollen frühstücken.“
Thomas kam aus dem Zelt, er war blaß und schwach, in der Hand hielt er die Feldflasche. Er ließ sich neben Oleg nieder, schraubte den Verschluß ab und nahm einen Schluck.
„Ich muß mich aufwärmen“, sagte er heiser. „Früher haben die Ärzte den Kranken und Schwachen Rotwein verschrieben.“
Marjana langte nach ihrem Sack — ein Pilz rollte heraus. Sonst aber war er zerbissen und leer.
„Wo sind denn die Pilze hin?“ fragte Marjana Thomas, als müßte er eine Antwort wissen. „Was denn“, Dick sprang auf, „hast du den Sack über Nacht nicht ins Zelt genommen?“
„Ich war so müde“, sagte Marjana. „Ich dachte, ich hätte es getan, aber er muß draußen geblieben sein.“
„Wo ist das verdammte Ziegenvieh“, zischte Dick, „das wird sie büßen!“
„Du bist verrückt!“ schrie Marjana. „Vielleicht war sie es gar nicht!“
„Wer sonst! Du vielleicht, Thomas, oder ich?! Was sollen wir jetzt fressen, und wie bis zum Paß kommen!“