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„Wir haben noch das Fleisch“, sagte Marjana.

„Zeig her. Vielleicht ist es ebenfalls verschwunden.“

„Was soll die Ziege mit dem Fleisch?“ erwiderte Marjana.

Doch Dick behielt recht — das Fleisch war gleichfalls weg. Etwa zwanzig kleine Stücke waren noch übrig, mehr nicht.

„Ich scherze nicht.“ Dick hob seine Armbrust vom Schnee auf.

Die Ziege schien das ihr drohende Unheil zu ahnen und sprang jäh hinter den Felsen.

„Du entkommst mir nicht“, sagte Dick.

„Warte“, rief Oleg, „so warte doch. Wenn’s sein muß, kannst du’s immer noch tun. Marjana will eine Viehwirtschaft aufbaun, verstehst du nicht, wie wichtig das für die Siedlung wäre? Wir hätten auf diese Weise immer Fleisch.“ „Für die Siedlung ist wichtig, daß wir hier nicht verrecken“, erwiderte Dick. „Wir sind die Hoffnung des Dorfes. Ohne uns erreicht auch die Ziege die Siedlung nicht, weil sie nämlich gleichfalls nichts zu fressen hat. Sie wird fortlaufen.“

„Bitte, Dick, tu’s nicht“, flehte Marjana. „Begreif doch, sie bekommt Junge.“

„Dann kehren wir jetzt um“, sagte Dick. „Unser Marsch ist beendet. Es hat keinen Sinn mehr.“

„Moment mal“, schaltete sich Thomas ein, „noch liegt die Entscheidung bei mir. Wenn du es willst, erlaube ich dir umzukehren. Du schaffst es in die Siedlung, daran zweifle ich nicht. Ich aber setze den Weg fort. Und mit mir alle, die es wünschen.“

„Ich marschiere weiter“, sagte Oleg. „Wir können nicht noch mal drei Jahre bis zum nächsten Sommer warten.“

„Ich geh auch weiter“, sagte Marjana, „und Dick kommt ebenfalls mit. Er ist nicht so böse, wie ihr glaubt. Er möchte nur, daß es allen gut geht.“

„Du brauchst mich nicht in Schutz zu nehmen“, sagte Dick, „ich bring das Vieh trotzdem um.“

„Für heute reicht unser Essen noch“, sagte Marjana.

„Es wär wirklich nicht schlecht, zusammen mit der Ziege heimzukehren“, ließ sich Thomas vernehmen. „Wir könnten sie sogar beladen. Und überhaupt kommen wir doppelt so schnell voran wie damals.“ Thomas nahm einen weiteren Schluck Kognak und schwenkte die Feldflasche. Nach dem Klang zu urteilen, war nur noch ganz wenig Feuerwasser darin.

„Ein Tag noch“, sagte Dick, „dann ist es zu spät zum Umkehren. Das betrifft dich, Thomas, in ganz besonderem Maße. Du verstehst doch, was ich meine.“

Marjana machte sich am Feuer zu schaffe, sie hatte es eilig, Wasser zum Kochen zu bringen. Sie hatte noch ein paar süße Wurzeln, zwei Handvoll.

Bereits nach zwei Stunden Fußmarsch kam Oleg zu der Einsicht, daß Dick recht hatte. Sie bewegten sich auf unwegsamem Gelände, auf schneebedecktem Ödland, es führte unablässig bergauf, sie mußten immer wieder Felsen umgehen, sich durch Felsspalten zwängen, Gletscher überwinden, die Luft und war scharf und schneidend und machte das Atmen schwer. Oleg war es gewohnt, wenig zu essen, niemals satt zu werden, dennoch hatte er nie hungern müssen — irgendwelche Vorräte hatte es im Dorf stets gegeben. Hier jedoch stürzte der Hunger, ihr ständiger Begleiter, mit aller Wucht in dem Augenblick über ihn her, als klar wurde, daß endlose Tage ohne Nahrung, ohne jeden Bissen vor ihnen lagen. Oleg ertappte sich dabei, daß er begehrliche Blicke auf die Ziege warf, er hoffte, sie würde in eine Felsspalte stürzen, unverhofft draufgehn, so daß er seine Worte nicht zurücknehmen mußte. Wir werden eine andere finden, beteuerte er lautlos, ganz bestimmt werden wir eine andere finden.

Und als hätte Thomas seine Gedanken erraten, sagte er: „Ein Glück, daß unsre Fleischreserven auf eignen Füßen mitlaufen. Wir hätten jetzt nicht die Kraft, sie zu schleppen.“

„Halt!“

Es war die Stimme Dicks. Er näherte sich, ein kräftiges aus Wasserpflanzen geflochtenes Seil in den Händen, der Ziege und warf es ihr um den Hals. Das Tier ließ es gehorsam und ergeben geschehen. Dann reichte Dick das andere Ende des Stricks Marjana und sagte: „Führ du sie.

Ich möchte nicht in Versuchung geraten.“

Oleg hatte mächtig zu kämpfen. Er schüttelte das Holz aus Thomas’ Sack — er hatte schon am eigenen genug zu schleppen. Seine Schultern schmerzten, und er schnappte nach Luft.

Sie legten eine Tagesrast ein, eine lange, denn alle waren von Kräften, Thomas aber schwankte schon im Laufen, so daß man ihn unwillkürlich stützen wollte. Sein Gesicht war gerötet, die Augen halb geschlossen, doch er setzte halsstarrig ein Bein vors andere, hin zum Gebirgspaß, zu seinem Paß, der für ihn mehr bedeutete als für die übrigen.

Etwa zwei Stunden nach der Rast wurde Thomas unruhig. „Wartet mal“, sagte er, „hoffentlich sind wir nicht vom Weg abgekommen. Hier müßten Überreste unsres Lagers sein, ich erinnere mich genau an diesen Felsen.“

Thomas setzte sich auf einen Stein, entfaltete mit zitternden Händen die Karte und fuhr mit dem Finger die Linien entlang. Dick konnte nichts damit anfangen, er ging voraus in der Hoffnung, ein Wild zu schießen. Oleg hockte sich neben Thomas auf den Boden.

Die Karte war mit Tinte in einer Zeit gefertigt worden, als es noch Tinte in der Siedlung gab — eine zähflüssige Paste, mit der die Federhalter gefüllt wurden. Oleg hatte diese Füller gesehen, nur schrieben sie damals schon nicht mehr.

Die Karte stammte aus einer Zeit, als die ersten Häuser im Dorf gebaut wurden und man noch der Meinung war, bei der erstmöglichen Gelegenheit zum Paß zurückzukehren. An dieser Karte hatten alle Anteil gehabt.

„Wir befinden uns jetzt hier“, sagte Thomas.

„Schon mehr als die Hälfte des Weges liegt hinter uns.

Ich hätte nicht gedacht, daß wir so schnell vorankommen.“

„Das Wetter ist gut“, sagte Oleg.

„Allem Anschein nach haben wir an dieser Stelle übernachtet. Es müßte Spuren geben, aber sie fehlen.“

„Es sind viele Jahre vergangen“, gab Oleg zu bedenken.

„Nun also … die Felsengruppen …“ murmelte Thomas.

„Drei Felsen, nein vier … Ach ja, beinahe hätte ich’s vergessen“, er drehte sich zu Oleg um. „Nimm das hier. Du mußt es unbedingt bei dir tragen. Ohne dieses Gerät darfst du keinen Schritt ins Raumschiff tun, das weißt du doch?“

„Ja. Es ist ein Strahlungsmesser, nicht wahr?“

„Genau. Du kennst den Grund, weshalb wir das Schiff schnell verlassen mußten. Wegen der starken Strahlung.

Und der Frost tat ein übriges.“

„Sollten Sie nicht ein bißchen schlafen?“ fragte Oleg.

„Es fällt Ihnen doch schwer. Wir brechen später auf.“

„Nein, wir dürfen uns nicht aufhalten, das würde den Tod bedeuten. Ich trage für euch die Verantwortung … Wo ist bloß das Lager … Wir hätten eigentlich tiefer graben müssen, als wir die Toten beerdigten, aber die Kraft reichte nicht. Und trotzdem, verstehst du, wir hätten sie tiefer vergraben müssen …“

Oleg konnte Thomas, der plötzlich vom Stein kippte, gerade noch auffangen.

Dick kam zurück, beobachtete vorwurfsvoll, wie Oleg den Kranken in Decken wickelte und Marjana hastig Feuer machte, um die Mixtur aufzuwärmen. Dick schwieg, doch Oleg hatte den Eindruck, als wiederhole er lautlos: ‚Ich hab euch gewarnt.‘ Oleg schraubte die Kappe der Feldflasche ab, roch am Kognak — es war ein herber, nahezu angenehmer Duft, trotzdem empfand er kein Verlangen, davon zu kosten. Das war wohl mehr eine Medizin, als zum Trinken gedacht. Er führte die Flasche vorsichtig an Thomas’ zusammengepreßte Lippen, der Kranke flüsterte etwas, das Oleg nicht verstand, schluckte dann aber und sagte aus unerfindlichem Grund „Skål“.

Sie konnten den Weg erst in der Dämmerung fortsetzen.

Thomas war wieder zu sich gekommen, sie wickelten ihn in Decken, seinen Sack übernahm Oleg, die Armbrust Dick. Wegen dieser Unterbrechung liefen sie, oder genauer kraxelten sie nicht länger als zwei Stunden am Hang entlang, der von riesigen, rutschenden Steinen bedeckt war.