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„Du sollst laufen!“ wiederholte Oleg. „Und zurückkommen.“

Da rannte das Mädchen leichtfüßig, kaum den Schnee berührend, den Abhang hinunter; Dick war bereits verschwunden.

„Sie tut mir leid, die Kleine“, sagte Thomas, „sie hängt so an dem Tier.“

„Mir tut sie auch leid“, sagte Oleg. „Seltsam, Sie besitzen überhaupt keine Form mehr, sind mal dick und dann wieder ganz dünn wie ein Streichholz.“

„Ist schon klar“, erwiderte Thomas. „Entspann dich, so gut es geht. Eigenartigerweise wirkt dieses Gift zuerst aufs Sehvermögen. Ich erinnere mich noch, denn mich hat dreimal so ein Floh gebissen. Aber hab keine Angst, es bleiben keinerlei Folgen zurück, wirklich, du kannst beruhigt sein.“

„Ich glaub’s ja, trotzdem ist es furchtbar, sich zu verlieren, verstehen Sie? Eben noch bin ich es, und kurze Zeit später schon nicht mehr.“

Oleg zog es in die Tiefe, in blaues Wasser, und es war unsäglich schwer, sich an der Oberfläche zu halten, denn die Beine waren von Schlingpflanzen umwuchert, und er mußte sie losreißen, befrein, sonst würde er unweigerlich ertrinken.

Die Decke, die Marjana über Oleg gebreitet hatte, flog beiseite. Oleg, gegen die Wand gelehnt, konnte sich nicht mehr halten und fiel in den Schnee. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen bewegten sich, das Gesicht wurde vor Anspannung und in dem Bestreben, die Fesseln zu sprengen, dunkel. Thomas wollte sich erheben, um ihm zu helfen, ihn zuzudecken oder wenigstens seinen Kopf auf die Knie zu nehmen. Es war in solchen Fällen immer günstig, den Kopf des Kranken zu halten. Thomas bemühte sich aufzustehn, doch die Beine versagten ihm den Dienst.

Oleg spannte den Rücken und schnellte buchstäblich in die Luft, er stieß sich mit den Fäusten vom Boden ab und begann den Abhang hinunterzurollen. Er überschlug sich mehrmals, prallte gegen einen aus dem Schnee ragenden Felsblock und blieb reglos liegen. Seine Jacke war zerrissen, der Schnee auf seiner nackten Brust aber taute nicht.

So geht das doch nicht, dachte Thomas entsetzt, ich muß unbedingt zu ihm! Zum Teufel mit der Ziege, zum Teufel mit Dick und seinem Komplex, unbedingt den starken Mann zu spielen. Dabei ist er davon überzeugt, im Recht zu sein, das Wohl aller im Sinn zu haben. Von seinem Standpunkt aus hat er sogar wirklich recht, aber nur, weil er unfähig ist, einen Blick in die Zukunft zu werfen … Wie schnell doch der zivilisierte, in der Gemeinschaft lebende Mensch zum Wilden wird. Wir hätten es nicht zulassen dürfen, daß unsre Kinder wie die jungen Wölfe aufwuchsen, nur damit sie sich besser im Wald zurechtfanden. Aber wir hatten ja keine Wahl. In all den fünfzehn Jahren haben wir, die Erwachsen es einfach nicht zuwege gebracht, zum Paß vorzudringen. Und es hätte auch nie Hoffnung gegeben, wären nicht solche Jungs wie Dick und Oleg herangewachsen … Himmel, muß mein Fieber hoch sein … bestimmt über vierzig … Wie weh das Atmen tut — das ist eine doppelseitige Lungenentzündung, um das zu erkennen, braucht man kein Arzt zu sein. Wenn ich das Raumschiff nicht erreiche, ist’s aus mit mir, dann hilft mir auch kein Ziegenfleisch mehr. Vor allem aber muß ich auf eignen Füßen zum Schiff gelangen — die Kinder können mich unmöglich bis zum Paß schleppen … Gott, wie mag es Oleshka gehn? Dieser Floh ist der Gipfel allen Unheils, er ist wie ein Verhängnis, das sich im Wald und in den Bergen versteckt hält, um uns daran zu hindern, zur übrigen Menschheit vorzudringen. Als wollte uns der Wald zu seinen Kindern machen, zu zweibeinigen Schakalen. Er ist bereit, unsere Siedlung zu dulden, doch nur als eine Fortsetzung seiner selbst, nicht als seine Negation … Dort hinter diesem Felsblock gähnt dunkel der Abhang. Er scheint zwar nicht sehr steil abzufallen, doch wenn Oleg in diesem Zustand abstürzt, bedeutet das seinen Tod … Wo ist hier bloß ein Strick, ich brauche einen zweiten Strick, mit dem ich Oleg an diesen Felsblock binden kann … Thomas begann sich kriechend bergab zu bewegen, ein Glück, daß es bergab ging, das war leichter, lediglich der Schnee versengte ihn. Wie war es nur möglich, daß der Schnee überallhin drang und ihm so furchtbar die Brust verbrannte. Wenn er husten mußte, tat er das möglichst sacht, damit es ihm nicht die Lungen zerfetzte. Der Husten aber sammelte sich in seiner Brust und drängte heraus, nichts konnte ihn zurückhalten.

Thomas kroch bergab und zog den Strick hinter sich her, der ihm unwahrscheinlich schwer vorkam, wie aus Blei. Der Strick verselbständigte sich und wand sich wie eine Schlange. Oleg schlug wie ein gefangener Vogel um sich, wollte die Fesseln zerreißen, und sein Nacken stieß dabei immer wieder gegen den Fels. Thomas spürte den Schmerz des Jungen fast körperlich, einen Schmerz, der Oleg zwar im Alptraum widerfuhr, nichtsdestoweniger aber real war und als Vision vor ihm erstand: Oleg glaubte in diesem Moment, ein Hausdach sei auf ihn herabgestürzt.

Nur noch zehn Meter waren zurückzulegen. Thomas begriff, daß Oleg ihn nicht hörte, nicht hören konnte, dennoch rief er beschwörend: „Halte durch, ich komme!“

Selber aber hob er unter großen Mühen den Kopf, um zu sehen, ob nicht endlich Marjana und Dick zurückkamen.

Doch wie zum Trotz ließen sich die beiden nicht blicken.

Das Wichtigste war jetzt, rechtzeitig bei Oleg zu sein, ihn daran zu hindern, den Hang hinunterzustürzen, andernfalls wäre alles verloren. Gescheitert auch der Marsch zum Gebirgspaß, der nun schon zehn Jahre währte … Diese dummen Kinder könnten bestimmt nicht verstehn, daß ich, am Ziel angelangt, mir zuallererst eine Schachtel Zigaretten suchen würde, dachte Thomas. Wenn sie noch staunten, hierhin und dorthin liefen, in Begeisterungsrufe ausbrachen — ich würde mich in einen Sessel setzen, in einen schönen weichen Sessel, und nach all den Jahre erst mal einen richtigen Zug tun. Marjaschka würde erschrecken, wenn plötzlich Rauch aus meinem Mund käme, mir aber würde von diesem Zug regelrecht schwindlig werden … Doch weshalb ist mir jetzt schwindlig, ich rauche ja gar nicht … Als Thomas endlich bei Oleg war, verlor er für einige Sekunden das Bewußtsein. Seine ganze Kraft war draufgegangen, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Sein Körper, einzig von diesem verzweifelten Wunsch vorwärts getrieben, verweigerte nun den Gehorsam, so als hätte er alles geleistet, wozu er imstande war.

Ein eisiger Windstoß, der ihm eine Schneesalve ins Gesicht blies, brachte Thomas wieder zu sich, vielleicht waren es aber auch das undeutliche Gemurmel Olegs und sein keuchender Atem. Thomas wünschte sich nichts sehnlicher, als mit geschlossenen Augen liegenzubleiben, nichts zu tun und an nichts zu denken — das wäre dann ein warmes, behagliches Märchen, die Erfüllung seiner Träume.

Oleg rutschte erneut um einen Meter abwärts, er schlug wild um sich, zerrte an den Stricken, stieß sich mit den gefesselten Beinen vom Felsblock ab. Thomas wollte seine Schnur fester packen, er überlegte, wie er den Jungen zuverlässig am Felsen festbinden könnte, kam aber zu keinem Ergebnis. Und da stellte fest, daß seine Hand leer war, daß er den Strick unterwegs hatte fallen lassen. Sein Ende lag, zu einem Ring geformt, ein paar Meter hinter ihm, doch Thomas besaß einfach nicht mehr die Kraft, zu ihm zurückzukriechen. So streckte er sich nur recht und schlecht, um den Jungen bei den Beinen zu packen, doch Oleg schlug heftig aus und schleuderte ihn, der den Schmerz nicht mehr spürte, beiseite.

Der Kranke begriff, daß er Oleg auf diese Weise nicht würde aufhalten können. Der Junge bewegte sich unaufhaltsam zum Abhang hin, denn er war, obwohl gefesselt, um vieles kräftiger als er. Also machte sich Thomas erneut daran, langsam, Stück für Stück, dem Abhang zuzukriechen, um sich zwischen ihn und den Jungen zu schieben, eine Barriere zu bilden, ein Hindernis, einen Prellbock. Er glaubte mehrere Stunden so dahinzurobben und beschwor Oleg, flehte ihn an, durchzuhalten, stillzuliegen. Aber als er endlich den schmalen Streifen zwischen Oleg dem Abhang erreichte, war der Junge bereits so weit an den Rand gerutscht, daß Thomas nichts anderes übrigblieb, als sich zwischen den Gefesselten und die spitzen Steine am äußersten Felsgrat zu zwängen.