„Ist doch unwichtig“, ließ sich Dick vernehmen, „gehen wir. Wir können schließlich nicht ewig hier herumspazieren. Und was ist, wenn’s nun auf dem Schiff doch nichts zu essen gibt?“
Merkwürdig, dachte Oleg, mir steht der Sinn im Augenblick überhaupt nicht nach Essen. Dabei hab ich eine Ewigkeit nichts zu mir genommen. Das müssen die Nerven sein.
Nach weiteren zehn Schritten erblickten sie erneut eine Nische, doch dort war das Glas zerbrochen. Marjana streckte die Hand aus, um die Pflanzen dahinter zu berühren.
„Das darfst du nicht!“ rief Dick.
„Ich weiß es besser“, erwiderte Marjana, „ich spüre sie.
Und die hier sind tot.“ Sie berührte einen der Zweige, und seine Blätter zerfielen zu Staub.
„Schade, daß wir keine Samen von ihnen haben“, sagte Marjana, „wir würden sie bei uns in der Siedlung aussäen.“
„Das Wichtigste befindet sich rechts“, sagte Oleg, „dort sind die Lagerräume. Wir wollen nachsehn, was es dort gibt.“
Sie wandten sich nach rechts. Mitten im Korridor lag ein zerrissener, halb durchsichtiger Sack, aus dem mehrere Büchsen aus hellem, weißem Metall gerollt waren. Der Sack war offenbar entzweigegangen, als die Menschen panikartig das Schiff verließen.
Es wurde ein eigentümliches, wundersames Mahl. Sie öffneten unzählige Büchsen — Dick mit dem Messer, Oleg dagegen erriet, daß man auch ohne Messer zurechtkam, indem man einfach auf den Büchsendeckel drückte. Sie kosteten nacheinander den Inhalt der Dosen und Tuben, und fast immer schmeckte es angenehm und fremd. Um die Büchsen tat es ihnen nicht mehr leid, denn es gab Kammern auf dem Schiff, die randvoll mit Kisten und riesigen Blechbehältern waren, in denen sich Millionen solcher Büchsen und anderer Lebensmittel befanden. Sie tranken Kondensmilch, und leider fehlte Thomas, denn nur er hätte ihnen sagen können, daß es welche war; sie schlangen Sprotten in sich hinein, ohne zu wissen, worum es sich handelte; sie drückten Konfitüre aus Tuben, obwohl sie ihnen zu süß war, kauten Mehl, ohne es zu kennen.
Marjana war verlegen über die Unordnung, die sie überall und speziell auf dem Fußboden anrichteten. Freilich kamen ihr die Bedenken erst, nachdem sie sich sattgegessen hatten und nur noch Büchsen mit unbekanntem Inhalt öffneten.
Solche, die sie bereits gekostet hatten, rührten sie nicht mehr an.
Danach wurden sie schläfrig — es zog ihnen die Augen zu, als drückte alle Müdigkeit der letzten Tage auf ihre Schultern. Dennoch gelang es Oleg nicht, die Kameraden zum Übernachten im Schiff zu überreden. Die beiden gingen, und kaum daß ihre Schritte im Korridor verhallt waren, bekam Oleg erneut Angst. Er mußte alle Kraft aufbieten, um ihnen nicht hinterherzueilen. Vielleicht wäre er ihnen gefolgt, wäre er nicht so grenzenlos erschöpft gewesen. Er streckte sich, die leeren Konservendosen wegschiebend, auf dem Fußboden aus, und schlief mehrere Stunden durch, es war, als ob die Zeit hier, auf dem Schiff, stillstand, nicht faßbar sei. Oleg schlief traumlos, ohne beängstigende Gedanken, schlief tief und ruhig, viel ruhiger als Marjana oder Dick, der trotz seiner Müdigkeit im Laufe des Abends und der Nacht mehrmals aufwachte und lauschte, ob nicht von irgendwoher Gefahr drohe. Hellhörig schreckte dann auch Marjana hoch, die ihren Kopf auf seine Brust gelegt hatte. Sie hatten sich mit sämtlichen Decken und der Zeltplane zugedeckt und froren nicht, weil am Abend dichter Schnee gefallen war und einen schützenden Wall um sie herum bildete. Dick hörte im Schlaf das Rascheln der Schneeflocken, hörte den Wind gegen die Bordwand des Schiffes über ihnen schlagen und stellte mit Genugtuung fest, daß es schneite. Auf diese Weise würden ihnen die Tiere, die es hier möglicherweise gab, nicht nachspüren.
Oleg erwachte früher als seine Kameraden, denn im Gegensatz zu ihnen fror er. Er hüpfte lange umher, um sich aufzuwärmen, dann aß er. Es war schon ein seltsames Gefühl, sich nicht immer fragen zu müssen, ob die Nahrung auch ausreiche — ein Gefühl, das er lange nicht mehr empfunden hatte. Ihm tat sogar ein bißchen der Bauch weh; nach seiner Meinung noch zu wenig bei dem vielen Essen. Es war ihm fast peinlich, die Überreste des üppigen Mahls zu betrachten, deshalb schob er die leeren und halbleeren Büchsen in eine Ecke des Raumes. Ich müßte meinen Erkundungsgang fortsetzen, dachte er, ob ich die anderen rufe? Lieber nicht, wahrscheinlich schlafen sie noch — Oleg kam es vor, als hätte er selbst nur wenige Minuten geschlummert.
Er beschloß, sich ein bißchen umzuschaun und dann die Kameraden zu wecken. Auf dem Schiff gab es schon lange kein Leben mehr, er brauchte also keine Angst zu haben. Außerdem mußten sie bald wieder zurück — in zwei, drei Tagen würde der Paß im Schnee versinken. Wir aber, so schalt er sich, vertrödeln die Zeit mit Schlafen.
Unglaublich!
Als echter Waldbewohner verfügte Oleg über einen ausgezeichneten Orientierungssinn, sogar hier auf dem Schiff. Er befürchtete nicht, sich zu verirren, und stieg deshalb gelassen die Schrägrampe hinauf, die nach oben zu den Wohnkabinen führte. Er wollte die Nummer vierundvierzig aufsuchen — seine Kajüte.
Den Wohnraum mit dem runden Schildchen 44 fand er erst nach einer Stunde. Und das nicht etwa, weil er schwierig zu entdecken gewesen wäre. Er hatte sich unterwegs einfach ablenken lassen, war zunächst ins Mannschaftslogis geraten, wo er einen langen Tisch erblickte, auf dem ihm besonders die kristallenen Salz— und Pfefferstreuer gefielen. Er steckte sogar je einen davon in seinen Sack, hoffte seiner Mutter eine Freude zu bereiten. Dann betrachtete er ausgiebig ein paar Schachfiguren. Der Kasten war bei dem Aufprall offenbar zu Boden gefallen und aufgegangen — die Figuren lagen auf dem Teppich verstreut. Er hatte noch nie etwas von einem solchen Spiel gehört und nahm an, es handle sich bei den Figuren um kleine Skulpturen ihm unbekannter Erdentiere. Erstaunlich war auch der Teppich selbst. Da er keine Nähte besaß, mußte er aus einer Tierhaut gefertigt sein. Doch welches Tier auf der Erde war so riesig und besaß so seltsame Muster? Gewiß handelte es sich um einen Meeresbewohner. Egli hatte erzählt, daß die größten Tiere Wale hießen und im Meer lebten. Nur hatte Oleg früher immer vermutet, sie besäßen eine glatte Haut. Der Junge sah dann noch viele wundersame, unbegreifliche Dinge und war, als er nach einer Stunde schließlich bei der Kajüte mit der Nummer vierundvierzig anlangte, voller Eindrücke. Freilich machte ihn diese Fülle von Eindrücken auch unzufrieden, denn er war unfähig, sich in all dem zurechtzufinden. Und betrübt, weil Thomas es nicht bis zum Schiff geschafft hatte, ihm nicht erklären konnte, wozu dieses und jenes gut war. Ja, so ungerecht es war, er empfand Groll gegen Thomas.
Vor der Tür mit der Nummer vierundvierzig blieb Oleg lange stehen. Er konnte sich nicht entschließen, sie zu öffnen, obwohl er wußte, daß ihn dort nichts Besonderes erwartete. Er kannte auch den Grund für dieses Zögern.
Obwohl die Mutter und alle anderen wiederholt versichert hatten, sein Vater sei bei der Katastrophe ums Leben gekommen — im Raum mit den Triebwerken, wo bei dem Aufprall der Reaktor auseinandergebrochen war —, schien ihm insgeheim, er könnte hier in der Kajüte sein. Vielleicht war er wieder zu sich gekommen, nachdem alle, in der Annahme, er sei tot, das Weite suchten, hatte sich hierhergeschleppt und war dann erfroren. Sogar an den Tod des Vaters hatte Oleg nie richtig geglaubt, in seiner Vorstellung lebte er und wartete hier unglücklich auf die Rückkehr der anderen. Möglicherweise lag es daran, daß auch die Mutter in ihrem tiefsten Innern überzeugt war, daß ihr Mann lebte. Das war ihr Fieberwahn, ihre Krankheit, die sie sorgsam vor den anderen, selbst vor dem Sohn, verbarg, nur daß der Sohn sie genau durchschaute.
Schließlich gab sich Oleg einen Ruck und öffnete die Tür. In der Kajüte herrschte Dunkel, denn ihre Wände waren mit ganz gewöhnlicher Farbe gestrichen. Er hielt einen Augenblick inne und zündete die Fackel an; seine Augen brauchten einige Zeit, sich an das Halbdämmer zu gewöhnen. Die Kajüte bestand aus zwei Räumen. Im ersten befanden sich ein Tisch und eine Liege, auf der sein Vater geschlafen hatte, im zweiten, sich daran anschließenden, hatte die Mutter mit ihm, dem Kleinkind, gewohnt.