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Der Zug bremst ab, und ganz kurz denke ich, Präsident Snow hat mich beobachtet und es nicht gutgeheißen, dass ich mich Haymitch anvertraue, und deshalb hat er beschlossen, mich auf der Stelle zu töten. Doch wir halten nur an, weil der Zug Treibstoff braucht.

»Hier im Zug ist es so stickig«, sage ich.

Es ist ein harmloser Satz, aber ich sehe, wie Haymitch die Augen schmal macht, er hat verstanden. »Dagegen weiß ich was.« Er schiebt sich an mir vorbei und torkelt durch den Gang zu einer Tür. Als er sie mühsam geöffnet hat, schlägt uns eine Schneewolke entgegen. Er stolpert hinaus und landet auf dem Boden.

Eine Dienerin vom Kapitol eilt herbei, um zu helfen, doch Haymitch gibt ihr gutmütig zu verstehen, dass sie wieder gehen kann, und taumelt weiter. »Brauch bloß ein bisschen frische Luft. Nur einen kleinen Moment.«

»Entschuldigung. Er ist betrunken«, sage ich. »Ich hole ihn rein.« Ich springe hinunter und stolpere hinter ihm an den Gleisen entlang. Meine Pantoffeln werden im Schnee klatschnass, während er mich ans Ende des Zuges führt, damit uns niemand hören kann. Dann wendet er sich zu mir.

»Was ist los?«

Ich erzähle ihm alles. Von dem Besuch des Präsidenten, von Gale und dass wir alle sterben müssen, wenn ich versage.

Sein Gesicht wird nüchterner, scheint im Licht der roten Schlusslichter zu altern. »Dann darfst du eben nicht versagen.«

»Wenn du mir bloß helfen kannst, diese Tour zu überstehen …«, setze ich an.

»Nein, Katniss, es geht nicht nur um die Tour«, sagt er.

»Wie meinst du das?«, frage ich.

»Selbst wenn du es schaffst, kommen sie doch in ein paar Monaten wieder und holen uns alle zu den Spielen ab. Du und Peeta, ihr werdet Mentoren sein, jedes Jahr von nun an. Und jedes Jahr werden sie auf die Liebesgeschichte zurückkommen und alle Einzelheiten deines Privatlebens breittreten, und du kannst nichts anderes tun, als bis ans Ende deiner Tage mit diesem Jungen zu leben.«

Seine Worte treffen mich mit voller Wucht. Selbst wenn ich es möchte, wird es für mich nie ein Leben mit Gale geben. Ich werde nie allein leben dürfen. Ich muss für immer in Peeta verliebt sein. Das Kapitol wird darauf bestehen. Ein paar Jahre darf ich vielleicht noch mit meiner Mutter und Prim zusammenwohnen, weil ich ja erst siebzehn bin. Und dann … und dann …

»Verstehst du, was ich sagen will?«, drängt er.

Ich nicke. Er will sagen, dass es nur eine mögliche Zukunft gibt, wenn ich dafür sorgen möchte, dass meine Lieben und ich selbst am Leben bleiben. Ich werde Peeta heiraten müssen.

4

Schweigend trotten wir zurück zum Zug. Im Gang vor meinem Abteil klopft Haymitch mir auf die Schulter und sagt: »Du könntest es viel schlechter treffen.« Dann geht er weiter zu seinem Abteil, die Weinfahne weht hinter ihm her.

In meinem Abteil ziehe ich die durchweichten Pantoffeln, den nassen Bademantel und den Schlafanzug aus. In den Schubladen sind noch mehr Schlafanzüge, doch ich krieche einfach in Unterwäsche unter die Bettdecke. Ich starre in die Dunkelheit und denke über das Gespräch mit Haymitch nach. Alles, was er gesagt hat, stimmt: die Erwartungen des Kapitols, meine Zukunft mit Peeta, sogar seine letzte Bemerkung. Natürlich könnte ich es viel schlechter treffen als mit Peeta. Aber darum geht es ja eigentlich nicht. Eine der wenigen Freiheiten, die wir in Distrikt 12 haben, ist das Recht, zu heiraten, wen wir wollen, oder auch gar nicht zu heiraten. Und jetzt haben sie mir selbst das noch genommen. Ich frage mich, ob Präsident Snow wohl darauf bestehen wird, dass wir Kinder bekommen. Wenn wir welche bekommen, werden sie sich jedes Jahr der Ernte stellen müssen. Und wäre das nicht ein Spektakel, wenn das Kind nicht nur eines Siegers, sondern gleich zweier Sieger für die Arena auserwählt würde? Es ist schon öfter vorgekommen, dass Kinder von Siegern in den Ring mussten. Dann gibt es jedes Mal große Aufregung, und die Leute sagen, dass diese Familie wirklich kein Glück hat. Aber es kommt so oft vor, dass es nicht nur mit Glück zu tun haben kann. Gale ist davon überzeugt, dass es Absicht ist; dass das Kapitol die Auslosung manipuliert, um die Dramatik zu steigern. Wenn man bedenkt, für wie viel Ärger ich gesorgt habe, dann dürfte jedem meiner Kinder ein Auftritt in den Spielen garantiert sein.

Ich denke an Haymitch, der unverheiratet ist, keine Familie hat und die Welt mit Alkohol ausblendet. Er hätte jede Frau im Distrikt haben können. Und wählte die Abgeschiedenheit. Nicht Abgeschiedenheit - das klingt zu friedlich. Eher so etwas wie Einzelhaft. Wusste er nach seiner Erfahrung in der Arena, dass das besser war, als die Alternative zu riskieren? Ich habe einen Vorgeschmack auf diese Alternative bekommen, als am Tag der Ernte Prims Name aufgerufen wurde und ich sah, wie sie zur Bühne ging, geradewegs in den Tod. Doch als Schwester konnte ich mich an ihrer Stelle melden, was unserer Mutter nicht erlaubt war.

Panisch versuche ich einen Ausweg zu ersinnen. Ich kann es nicht zulassen, dass Präsident Snow mich zu diesem Los verdammt. Und wenn ich mir das Leben nehmen müsste. Aber vorher würde ich versuchen zu fliehen. Was würden sie tun, wenn ich einfach abtauchen würde? In den Wald verschwinden und nie mehr herauskommen würde? Wäre es vielleicht sogar denkbar, alle meine Lieben mitzunehmen und mitten in der Wildnis ein neues Leben anzufangen? Höchst unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.

Ich schüttele den Kopf, um die Gedanken zu ordnen. Jetzt ist nicht der richtige Moment, um wilde Fluchtpläne zu schmieden. Ich muss mich auf die Tour der Sieger konzentrieren. Das Schicksal zu vieler Menschen hängt davon ab, dass ich eine überzeugende Vorstellung liefere.

Das Morgengrauen kommt vor dem Schlaf und dann klopft auch schon Effie an meine Tür. Ich ziehe die erstbesten Sachen an, die auf der Kommode liegen, und schleppe mich in den Speisewagen. Ich verstehe nicht, weshalb ich früh aufstehen soll, da es ohnehin ein Reisetag ist, aber dann erfahre ich, dass die Verschönerung gestern nur für den Weg zum Bahnhof war. Heute macht sich das Vorbereitungsteam noch mal richtig an die Arbeit.

»Wozu? Bei der Kälte sieht man doch sowieso nichts«, murre ich.

»In Distrikt 11 ist es aber nicht kalt«, sagt Effie.

Distrikt 11. Unsere erste Station. Ich würde lieber in einem anderen Distrikt anfangen, denn in 11 war Rue zu Hause. Aber so läuft das nicht bei der Tour der Sieger. Normalerweise geht es in Distrikt 12 los, dann werden der Reihe nach alle Distrikte durchlaufen, bis die Reise schließlich ins Kapitol führt. Der Distrikt des Siegers wird ausgespart und kommt ganz zum Schluss dran. Sonst veranstaltet Distrikt 12 immer die am wenigsten spektakuläre Feier - für gewöhnlich nur ein Essen für die Tribute und eine Siegesfeier auf dem Platz, bei der niemand so aussieht, als würde er sich amüsieren. In diesem Jahr wird Distrikt 12 zum ersten Mal seit Haymitchs Sieg die Endstation der Tour sein und das Kapitol spendiert die Feier, da ist es wahrscheinlich am besten, wenn wir hier so schnell wie möglich verschwinden, damit alles vorbereitet werden kann.

Ich versuche das Essen zu genießen, wie Hazelle es mir geraten hat. Die Leute in der Küche wollen mir offenbar eine Freude machen. Sie haben mein Leibgericht gekocht, Lammeintopf mit Backpflaumen, und andere Köstlichkeiten. Auf dem Tisch warten an meinem Platz Orangensaft und ein Becher dampfend heißer Kakao. Ich esse eine Menge, und das Mahl ist tadellos, aber ich kann nicht sagen, dass ich es genieße. Außerdem ärgert es mich, dass sich außer Effie und mir niemand blicken lässt. »Wo sind die anderen alle?«, frage ich.

»Ach, wer weiß, wo Haymitch ist«, sagt Effie. Mit Haymitch hatte ich sowieso nicht gerechnet, der geht wahrscheinlich gerade schlafen. »Cinna war gestern lange auf, er musste einen Waggon für deine Kleider organisieren. Er hat bestimmt über hundert für dich. Deine Abendgarderobe ist exquisit. Und Peetas Team schläft vermutlich noch.«

»Muss er nicht vorbereitet werden?«, frage ich.