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Als ich wieder an dem Maschendrahtzaun bin, der Distrikt 12 umgibt, steht die Sonne schon recht hoch am Himmel. Wie immer lausche ich kurz, doch kein verräterisches Summen von elektrischem Strom ist zu hören. Eigentlich hört man es fast nie, obwohl der Zaun rund um die Uhr unter Strom stehen müsste. Ich zwänge mich durch die Lücke unter dem Zaun und komme auf der Weide heraus, nur einen Steinwurf von zu Hause entfernt. Meinem alten Zuhause. Wir dürfen es behalten, weil es offiziell für meine Mutter und meine Schwester bestimmt ist. Wenn ich jetzt tot umfallen würde, müssten sie dorthin zurückkehren. Doch zurzeit sind sie beide glücklich im neuen Haus im Dorf der Sieger untergebracht, und ich bin die Einzige, die das gedrungene Häuschen benutzt, in dem ich aufgewachsen bin. Für mich ist es mein eigentliches Zuhause.

Jetzt gehe ich dorthin, um mich umzuziehen. Tausche die alte Lederjacke meines Vaters gegen einen feinen Wollmantel, der mir an den Schultern immer zu eng vorkommt. Die weichen, ausgetretenen Jagdstiefel gegen ein Paar teurer, maschinell gefertigter Schuhe, die meine Mutter für jemanden in meiner Stellung angemessener findet. Pfeil und Bogen habe ich in einem hohlen Baumstamm im Wald verstaut. Obwohl die Zeit drängt, setze ich mich für ein paar Minuten in die Küche. Sie wirkt verlassen ohne Feuer im Herd und ohne Tischtuch. Ich trauere meinem alten Leben nach. Wir kamen kaum über die Runden, aber ich wusste, wohin ich gehörte, ich wusste, wo mein Platz in dem festen Gefüge unseres Lebens war. Ich würde gern dorthin zurückkehren, im Nachhinein kommt es mir so sicher vor im Vergleich zu jetzt, da ich so reich bin und so verhasst bei den Machthabern im Kapitol.

Ein Maunzen an der Hintertür lässt mich aufhorchen. Ich mache auf, und da steht Butterblume, Prims räudiger alter Kater. Ihm gefällt das neue Haus so wenig wie mir, und wenn meine Schwester in der Schule ist, verzieht er sich immer. Wir konnten uns nie besonders gut leiden, doch die Abneigung gegen das neue Haus verbindet uns. Ich lasse ihn herein, gebe ihm ein Stück Biberfett und kraule ihn sogar ein bisschen zwischen den Ohren. »Du bist hässlich, das weißt du, oder?«, sage ich. Butterblume stupst gegen meine Hand, er will weiter gestreichelt werden, aber wir müssen los. »Na komm.« Ich hebe ihn mit einer Hand hoch, greife mit der anderen meine Jagdtasche und nehme beide mit hinaus auf die Straße. Der Kater befreit sich mit einem Satz und verschwindet unter einem Busch.

Die Schuhe drücken an den Zehen, während ich über den Ascheweg gehe. Ich nehme die Abkürzung durch kleine Gassen und Hintergärten und bin im Nu bei Gales Haus. Seine Mutter Hazelle steht am Waschbecken in der Küche und sieht mich durchs Fenster. Sie trocknet sich die Hände an der Schürze und kommt an die Tür.

Ich kann Hazelle gut leiden. Habe Hochachtung vor ihr. Bei der Explosion, die meinen Vater das Leben kostete, starb auch ihr Mann, und sie blieb mit drei Jungen zurück und einem Baby im Bauch, das jeden Tag zur Welt kommen konnte. Keine Woche nach der Geburt zog sie schon durch die Straßen und suchte Arbeit. Der Bergbau kam nicht infrage, schließlich musste sie für das Baby sorgen, doch es gelang ihr, Arbeit als Wäscherin für einige Kaufleute aus der Stadt zu bekommen. Im Alter von vierzehn wurde Gale, ihr ältester Sohn, der Haupternährer der Familie. Er hatte sich bereits für Tesserasteine eintragen lassen, das bescherte ihnen eine bescheidene Ration an Getreide und Öl im Tausch dafür, dass sein Name mehrfach in die Lostrommel für die Ziehung der Tribute wanderte. Hinzu kam, dass er auch damals schon ein geschickter Fallensteller war. Aber das allein hätte nicht ausgereicht, um eine fünfköpfige Familie zu ernähren, und so schrubbte Hazelle sich die Finger auf dem Waschbrett wund bis auf die Knochen. Im Winter waren ihre Finger immer so rot und rissig, dass sie beim geringsten Anlass anfingen zu bluten. Das wäre immer noch so, hätte meine Mutter nicht eine spezielle Salbe dagegen entwickelt. Doch Hazelle und Gale sind entschlossen, den anderen Kindern, dem zwölfjährigen Rory, dem zehnjährigen Vick und der sechsjährigen Posy, die Tesserasteine zu ersparen.

Hazelle lächelt, als sie die Beute sieht. Sie packt den Biber am Schwanz und wiegt ihn in der Hand. »Das gibt einen schönen Eintopf.« Anders als Gale hat sie kein Problem mit unserem Jagdabkommen.

»Hat auch einen schönen Pelz«, sage ich. Es ist tröstlich, hier bei Hazelle zu sein. Über die Vorzüge der Beute zu sprechen wie eh und je. Sie schenkt mir einen Becher Kräutertee ein und ich lege dankbar meine eiskalten Hände darum. »Weißt du, als ich von der Jagd kam, dachte ich mir, ich könnte doch Rory ab und zu mal mitnehmen. Nach der Schule. Könnte ihm beibringen, wie man mit Pfeil und Bogen umgeht.«

Hazelle nickt. »Das war gut. Gale würde ja gern, aber er hat nur die Sonntage, und ich glaub, die hält er sich lieber für dich frei.«

Ich kann nichts dagegen tun, dass meine Wangen flammend rot werden. Das ist natürlich albern. Kaum jemand kennt mich besser als Hazelle. Sie weiß, wie ich mit Gale verbunden bin. Bestimmt haben viele Leute geglaubt, wir würden später einmal heiraten, auch wenn ich nie daran gedacht habe. Doch das war vor den Spielen. Bevor mein Mittribut Peeta Mellark verkündet hat, er sei unsterblich in mich verliebt. Unsere Liebesgeschichte wurde in der Arena zu unserer wichtigsten Überlebensstrategie.

Allerdings war es für Peeta nicht bloß eine Strategie. Was es für mich war, weiß ich nicht so genau. Aber dass es für Gale eine einzige Qual war, das weiß ich inzwischen. Meine Brust schnürt sich zusammen, als ich daran denke, dass Peeta und ich auf der Tour der Sieger wieder als Liebespaar auftreten müssen.

Ich stürze den Tee hinunter, obwohl er zu heiß ist, und schiebe schnell den Stuhl zurück. »Ich muss jetzt los. Muss mich für die Kameras herrichten.«

Hazelle umarmt mich. »Genieß das Essen.«

»Ganz bestimmt«, sage ich.

Als Nächstes mache ich auf dem Hob halt, wo ich früher den meisten Handel getrieben habe. Vor langer Zeit wurde im Hob Kohle gelagert, später dann wurde er zum Treffpunkt für zwielichtige Geschäfte, bis schließlich ein richtiger Schwarzmarkt entstand. Er zieht kriminelle Elemente an und deshalb gehöre ich wohl auch dorthin. Wer in den Wäldern um Distrikt 12 herum jagt, bricht mindestens ein Dutzend Gesetze und riskiert die Todesstrafe.

Auch wenn sie es nie erwähnen, verdanke ich den Leuten vom Schwarzmarkt eine Menge. Gale hat mir erzählt, dass Greasy Sae, die alte Frau, die Suppe verkauft, während der Spiele eine Sammlung für Peeta und mich ins Leben gerufen hat. Sie sollte eigentlich auf den Schwarzmarkt beschränkt sein, doch viele Leute hörten davon und steuerten etwas bei. Ich weiß nicht genau, wie viel es war, und die Preise für die Sponsorengeschenke in der Arena waren unglaublich hoch. Doch soweit ich weiß, hat es mir das Leben gerettet.

Es ist immer noch merkwürdig, den Eingang mit einer leeren Jagdtasche zu betreten, ohne etwas zum Tauschen, und stattdessen den schweren Geldbeutel an der Hüfte zu spüren. Ich versuche, so viele Stände wie möglich zu besuchen und meine Einkäufe gleichmäßig zu verteilen: Kaffee, Brötchen, Eier, Garn und Öl. Schließlich kommt mir noch die Idee, drei Flaschen klaren Schnaps bei einer einarmigen Frau namens Ripper zu kaufen. Sie war Opfer eines Bergwerksunfalls und clever genug, sich trotzdem durchzuschlagen.

Der Schnaps ist nicht für meine Familie bestimmt, sondern für Haymitch, der bei den Spielen Peetas und mein Mentor war. Haymitch ist mürrisch, grob und meistens betrunken. Aber er hat ganze Arbeit geleistet - mehr als das, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Spiele durften zwei Tribute gewinnen. Also ganz gleich, wie Haymitch ist, ich habe auch ihm viel zu verdanken. Und zwar für den Rest meines Lebens. Ich besorge den Schnaps, weil er vor ein paar Wochen mal keinen mehr hatte und es auch keinen zu kaufen gab, woraufhin er Entzugserscheinungen bekam. Er zitterte und schrie irgendwelche schrecklichen Erscheinungen an, die nur er sehen konnte. Prim erschrak zu Tode, und mir machte es, ehrlich gesagt, auch keinen Spaß, ihn so zu sehen. Seitdem horte ich das Zeug sozusagen, für den Fall, dass es mal wieder einen Engpass geben sollte.