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»Setzen wir uns doch.« Präsident Snow setzt sich an den großen Schreibtisch aus glänzendem Holz, an dem Prim ihre Hausaufgaben macht und meine Mutter die Haushaltsplanung. Ebenso wie er nicht einfach in unser Haus kommen dürfte, hat er auch kein Recht, diesen Platz einzunehmen. Und doch hat er jedes Recht. Ich setze mich vor den Tisch auf einen der geschnitzten Stühle mit hoher Lehne. Er ist für jemand Größeren als mich gemacht, ich berühre den Boden nur mit den Zehen.

»Ich habe ein Problem, Katniss«, sagt Präsident Snow. »Ein Problem, das in dem Moment auftauchte, als du in der Arena die giftigen Beeren hervorgeholt hast.«

Er meint den Moment, in dem ich mir dachte, dass die Spielmacher, vor die Wahl gestellt, Peeta und mir beim Selbstmord zuzusehen - womit es keinen Sieger gegeben hätte - oder uns beide am Leben zu lassen, sich für die zweite Möglichkeit entscheiden würden.

»Wenn Seneca Crane, der Oberste Spielmacher, ein wenig Grips gehabt hätte, hätte er dich auf der Stelle in die Luft gejagt. Doch er hatte leider eine sentimentale Ader. Deshalb bist du hier. Kannst du dir denken, wo er ist?«, fragt er.

Ich nicke, denn so, wie er es sagt, ist klar, dass Seneca Crane hingerichtet wurde. Jetzt, da nur der Schreibtisch uns trennt, ist der Geruch von Rosen und Blut noch stärker. Präsident Snow trägt eine Rose am Revers, die immerhin auf die Quelle des Blumendufts hinweist, allerdings muss sie genmanipuliert sein, denn keine echte Rose riecht so. Aber was das Blut angeht … keine Ahnung.

»Danach konnten wir nichts tun, als dich dein kleines Theater zu Ende spielen zu lassen. Und du hast dich wirklich recht gut gemacht als liebestolles Schulmädchen. Die Leute im Kapitol waren ziemlich überzeugt. Leider sind in den Distrikten nicht alle auf dein Schauspiel hereingefallen«, sagt er.

Für einen kurzen Moment muss sich die Verwirrung in meinem Gesicht gespiegelt haben, denn er geht darauf ein.

»Das kannst du natürlich nicht wissen. Du hast keinen Zugang zu Informationen über die Stimmung in anderen Distrikten. Doch in einigen wurde dein kleiner Beerentrick als Herausforderung gedeutet, nicht als Akt der Liebe. Und wenn ausgerechnet ein Mädchen aus Distrikt 12 das Kapitol herausfordern kann und so einfach davonkommt, was sollte andere dann davon abhalten, dasselbe zu tun?«, sagt er. »Was sollte zum Beispiel einen Aufstand verhindern?«

Es dauert einen Augenblick, bis ich den letzten Satz begreife.

»Es hat Aufstände gegeben?«, frage ich. Die Vorstellung erschreckt mich, gleichzeitig spüre ich so etwas wie freudige Erregung.

»Noch nicht. Aber wenn es so weitergeht, wird es dazu kommen. Und Aufstände führen, wie man weiß, zur Revolution.« Präsident Snow reibt eine Stelle über der linken Augenbraue, genau dort, wo ich auch immer Kopfschmerzen bekomme. »Kannst du ermessen, was das bedeuten würde? Wie viele Menschen sterben würden? Das Elend der Überlebenden? Was für Probleme man mit dem Kapitol auch haben mag - wenn es in seiner Strenge nur kurz nachlassen würde, dann würde das gesamte System zusammenbrechen, das kannst du mir glauben.«

Ich bin verblüfft, wie offen und aufrichtig das klingt. Als hätte er vor allem das Wohlergehen der Bürger von Panem im Auge, während ihm doch nichts ferner liegt. Ich weiß nicht, woher ich den Mut nehme, die folgenden Worte zu sagen, aber ich tue es. »Das System muss sehr wacklig sein, wenn eine Handvoll Beeren es zum Einsturz bringen kann.«

Lange Zeit ist es still und er sieht mich nur an. Dann sagt er: »Es ist wacklig, aber nicht so, wie du denkst.«

Es klopft an der Tür und der Mann vom Kapitol streckt den Kopf herein. »Die Mutter lässt fragen, ob Sie Tee möchten.«

»Oh ja. Ich hätte gern einen Tee«, sagt der Präsident. Die Tür geht weiter auf, und da steht meine Mutter, sie bringt ein Tablett mit einem Teeservice aus Porzellan, das sie bei ihrer Heirat mit in den Saum genommen hat. »Stellen Sie es bitte hierhin.« Er legt sein Buch auf die Ecke des Tisches und klopft auf die Tischmitte.

Meine Mutter setzt das Tablett ab. Darauf stehen eine Teekanne und Tassen, Sahne und Zucker und ein Teller mit Keksen. Sie sind wunderhübsch verziert mit pastellfarbenen Zuckerblumen. Das kann nur Peetas Werk sein.

»Was für ein willkommener Anblick! Wissen Sie, es ist merkwürdig, wie oft vergessen wird, dass auch Präsidenten essen müssen«, sagt Präsident Snow liebenswürdig. Immerhin wirkt meine Mutter nach seinen Worten nicht mehr ganz so nervös.

»Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen? Ich kann etwas Sättigenderes kochen, wenn Sie hungrig sind«, bietet sie an.

»Nein, besser als dies hier könnte es gar nicht sein. Vielen Dank«, sagt er, eine deutliche Aufforderung, uns wieder allein zu lassen. Meine Mutter nickt, wirft mir einen Blick zu und geht. Präsident Snow schenkt uns beiden Tee ein, nimmt sich Sahne und Zucker und rührt dann lange in seiner Tasse. Ich spüre, dass er gesagt hat, was er zu sagen hatte, und auf meine Antwort wartet.

»Ich wollte keine Aufstände verursachen«, sage ich.

»Das glaube ich dir. Es spielt keine Rolle. Dein Stylist hat sich hinsichtlich der Wahl deines Kostüms als Prophet erwiesen. Katniss Everdeen, das Mädchen, das in Flammen stand - von dir ist ein Funke ausgegangen, der sich, wenn wir uns nicht darum kümmern, zu einem Inferno auswachsen könnte, das Panem zerstört«, sagt er.

»Warum bringen Sie mich jetzt nicht einfach um?«, platze ich heraus.

»Öffentlich?«, fragt er. »Das hieße nur Öl ins Feuer gießen.«

»Dann lassen Sie es wie einen Unfall aussehen«, sage ich.

»Wer sollte das glauben?«, fragt er. »Du bestimmt nicht, wenn du Zuschauer wärst.«

»Dann sagen Sie mir, was ich tun soll. Ich werde es tun«, sage ich.

»Wenn es nur so einfach wäre.« Er nimmt einen Blumenkeks und betrachtet ihn. »Wie hübsch. Hat deine Mutter die selbst gebacken?«

»Peeta.« Und zum ersten Mal merke ich, dass ich seinem Blick nicht standhalten kann. Ich nehme die Tasse, stelle sie jedoch zurück, als ich merke, wie sie an die Untertasse klirrt. Um es zu überspielen, nehme ich schnell einen Keks.

»Peeta. Wie ist sie denn, die Liebe deines Lebens?«, fragt er.

»Gut«, sage ich.

»Wann genau hat er gemerkt, wie gleichgültig er dir wirklich ist?«, fragt er und tunkt seinen Keks in den Tee.

»Er ist mir nicht gleichgültig«, sage ich.

»Aber vielleicht bist du nicht ganz so hingerissen von dem jungen Mann, wie du das Land glauben machen wolltest«, erklärt er.

»Wer sagt das?«, frage ich.

»Ich«, sagt der Präsident. »Und wenn ich der Einzige wäre, der seine Zweifel hat, wäre ich nicht hier. Wie geht es dem feschen Cousin?«

»Ich weiß nicht … ich …« Mein Widerwillen gegen dieses Gespräch, dagegen, dass ich mit Präsident Snow über meine Gefühle für zwei der Menschen spreche, die mir am meisten bedeuten, lässt meine Stimme ersterben.

»Sprich nur, Katniss. Ihn kann ich leicht umbringen, wenn wir keine glückliche Lösung finden. Du tust ihm keinen Gefallen damit, dass du jeden Sonntag mit ihm in den Wald verschwindest.«

Wenn er das weiß, was weiß er dann noch alles? Und woher weiß er es? Viele Leute könnten ihm erzählt haben, dass Gale und ich sonntags zusammen auf die Jagd gehen. Kreuzen wir nicht am Ende jedes Sonntags schwer bepackt mit Wild auf? Ist das nicht schon seit Jahren so? Die eigentliche Frage ist, was seiner Meinung nach in den Wäldern hinter Distrikt 12 passiert. Bestimmt haben sie uns dort nicht aufgespürt. Oder doch? Kann uns jemand gefolgt sein? Das erscheint mir unmöglich. Jedenfalls kein Mensch. Kameras? Bis zu diesem Augenblick ist mir das nie in den Sinn gekommen. Der Wald war für uns immer ein sicherer Ort - der Ort, wo uns das Kapitol nicht erreichen konnte, wo wir bedenkenlos sagen konnten, was wir fühlten, so sein konnten, wie wir waren. So war es jedenfalls vor den Spielen. Wenn sie uns seitdem beobachtet haben, was haben sie gesehen? Zwei Menschen auf der Jagd, die ketzerische Bemerkungen über das Kapitol machen, das schon. Aber nicht zwei Verliebte, wie Präsident Snow anzudeuten scheint. Was das angeht, sind wir auf der sicheren Seite. Es sei denn … es sei denn …