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»Überzeuge mich«, sagt er. Er lässt die Serviette sinken und nimmt wieder sein Buch. Ich schaue ihn nicht an, als er zur Tür geht, deshalb zucke ich zusammen, als er mir ins Ohr flüstert: »Übrigens, ich weiß von dem Kuss.« Dann fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.

3

Der Geruch von Blut … er lag in seinem Atem. Was macht er bloß?, denke ich. Trinkt er es? Ich stelle mir vor, wie er Blut aus einer Teetasse trinkt. Wie er einen Keks hineintunkt und ihn rot triefend herauszieht.

Draußen vorm Fenster kommt ein Auto in Gang, sanft und leise wie das Schnurren einer Katze, dann verschwindet es in der Ferne. Es stiehlt sich davon, wie es gekommen ist, unbemerkt.

Das Zimmer scheint sich in langsamen, schiefen Kreisen zu drehen, ich frage mich, ob ich womöglich ohnmächtig werde. Ich beuge mich vor und stütze mich mit einer Hand am Schreibtisch ab. In der anderen halte ich noch immer Peetas wunderhübschen Keks. Ich glaube, es war eine orangefarbene Lilie darauf, doch jetzt sind nur noch Krümel in meiner Faust. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich ihn zerdrückt habe, aber ich musste mich wohl an irgendetwas festhalten, während meine Welt aus den Fugen geriet.

Ein Besuch von Präsident Snow. Distrikte kurz vor dem Aufstand. Eine direkte Morddrohung gegen Gale, auf die weitere folgen werden. Alle, die ich liebe, todgeweiht. Und wer weiß, wer noch für meine Taten bezahlen muss? Wenn ich bei der Tour der Sieger das Blatt nicht wende. Die Unzufriedenen besänftige und den Präsidenten beruhige. Und wie? Indem ich überall im Land jeden Zweifel daran ausräume, dass ich Peeta Mellark liebe.

Das schaffe ich nicht, denke ich. So gut bin ich nicht. Peeta ist der Gute, der Liebenswürdige. Er kann die Leute von allem überzeugen. Ich schweige lieber, halte mich zurück, überlasse das Reden so weit wie möglich ihm. Aber nicht Peeta soll seine Zuneigung unter Beweis stellen, sondern ich.

Ich höre den leichten, schnellen Schritt meiner Mutter im Flur. Sie darf das nicht erfahren, denke ich. Nichts von alldem. Ich halte die Hände über das Tablett und wische mir schnell die Kekskrümel von den Fingern. Zittrig trinke ich einen Schluck Tee.

»Ist alles in Ordnung, Katniss?«, fragt sie.

»Alles gut. Wir haben es im Fernsehen nie gesehen, aber der Präsident besucht die Sieger immer vor der Tour, um ihnen Glück zu wünschen«, sage ich fröhlich.

Ich sehe ihr an, wie erleichtert sie ist. »Ach so. Ich dachte schon, es gäbe irgendwelche Schwierigkeiten.«

»Nein, gar nicht«, sage ich. »Aber ich kriege Schwierigkeiten, wenn das Vorbereitungsteam sieht, wie meine Augenbrauen schon wieder zugewachsen sind.« Meine Mutter lacht, und ich denke daran, dass ich damals, als ich mit elf Jahren die Sorge für die Familie übernahm, eine unwiderrufliche Entscheidung getroffen habe. Und dass ich meine Mutter immer werde beschützen müssen.

»Soll ich dir schon mal dein Bad einlassen?«, fragt sie.

»Ja, gern«, sage ich, und ich sehe, wie froh sie über die Antwort ist.

Seit ich wieder zu Hause bin, gebe ich mir große Mühe, das Verhältnis zu meiner Mutter zu verbessern. Anstatt jedes Hilfsangebot abzulehnen, wie ich es jahrelang aus Wut getan habe, bitte ich sie jetzt ab und zu um einen Gefallen. Ich lasse sie das ganze Geld verwalten, das ich gewonnen habe. Erwidere ihre Umarmungen, anstatt sie bloß über mich ergehen zu lassen. In der Arena ist mir klar geworden, dass ich sie nicht länger für etwas bestrafen darf, woran sie nicht schuld ist, vor allem nicht für die schrecklichen Depressionen, in die sie nach dem Tod meines Vaters versunken ist. Manchmal sind die Menschen einfach machtlos gegen das, was mit ihnen geschieht.

Wie ich zum Beispiel, in diesem Moment.

Außerdem hat sie bei meiner Rückkehr in den Distrikt etwas ganz Wunderbares getan. Nachdem unsere Freunde und Verwandten Peeta und mich am Bahnhof begrüßt hatten, durften uns die Reporter ein paar Fragen stellen. Einer fragte meine Mutter, was sie von meinem neuen Freund halte, und sie antwortete, Peeta sei zwar ein Traum von einem jungen Mann, aber ich sei noch nicht alt genug, um überhaupt einen Freund zu haben. Daraufhin warf sie Peeta einen durchdringenden Blick zu. Von der Presse gab es viel Gelächter und Bemerkungen wie: »Da hat aber einer ein Problem«, und Peeta ließ meine Hand los und trat einen Schritt zur Seite. Das dauerte nicht lange - der Druck, sich anders zu verhalten, war zu groß -, doch wir hatten jetzt einen Vorwand, ein wenig zurückhaltender zu sein als im Kapitol. Und vielleicht hat das auch dazu beigetragen, dass ich von Peeta, seit die Kameras verschwunden sind, nicht mehr allzu viel gesehen habe.

Ich gehe hinauf ins Badezimmer, wo mich eine Wanne mit dampfendem Wasser erwartet. Meine Mutter hat einen kleinen Beutel getrocknete Blumen hinzugegeben, die ihren Duft verströmen. Keiner von uns ist den Luxus gewohnt, einen Wasserhahn aufzudrehen und eine unbegrenzte Menge warmes Wasser zur Verfügung zu haben. In unserem Haus im Saum gab es nur kaltes Wasser, und wenn man baden wollte, musste man das Wasser über dem Feuer erwärmen. Ich ziehe mich aus, lasse mich in das seidenweiche Wasser gleiten - meine Mutter hat auch irgendein Öl hineingetan - und versuche, alles zu ordnen.

Die erste Frage ist, wem ich davon erzählen soll, wenn überhaupt jemandem. Natürlich nicht meiner Mutter und Prim, sie wären krank vor Sorge. Gale auch nicht. Selbst wenn ich mit ihm sprechen könnte. Was sollte er damit anfangen? Wenn er allein wäre, könnte ich versuchen, ihn zur Flucht zu überreden. Ganz sicher würde er im Wald überleben. Aber er ist nicht allein und er würde seine Familie niemals im Stich lassen. Und mich auch nicht. Wenn ich wieder zu Hause bin, muss ich ihm irgendwie erklären, weshalb unsere Sonntage der Vergangenheit angehören müssen, aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. Nur über den nächsten Schritt. Außerdem ist Gale schon so wütend auf das Kapitol, dass ich manchmal glaube, er organisiert seinen eigenen Aufstand. Da brauche ich ihn jetzt wirklich nicht noch zusätzlich anzustacheln. Nein, von denen, die ich in Distrikt 12 zurücklasse, kann ich es keinem erzählen.

Es gibt aber noch drei Menschen, denen ich mich anvertrauen könnte. Zunächst einmal Cinna, meinem Stylisten. Aber ich fürchte, dass Cinna jetzt schon in Gefahr ist, und ich möchte ihn nicht noch mehr in Schwierigkeiten bringen, indem ich ihn auf meine Seite ziehe. Dann Peeta, der bei diesem Theater mein Partner sein wird - aber wie sollte ich ein solches Gespräch anfangen? Du, Peeta, weißt du noch, als ich dir erzählt hab, ich hatte nur so getan, als ob ich in dich verliebt wäre? Tja, also, das musst du unbedingt vergessen und dich jetzt ganz besonders verliebt aufführen, sonst bringt der Präsident womöglich Gale um. Ausgeschlossen. Abgesehen davon wird Peeta seine Sache sowieso gut machen, ob er nun weiß, was auf dem Spiel steht, oder nicht. Bleibt noch Haymitch. Der unleidliche, streitsüchtige Trunkenbold Haymitch, dem ich vor nicht allzu langer Zeit eine Schüssel eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt habe. Als mein Mentor bei den Spielen war es seine Aufgabe, für mein Überleben zu sorgen. Hoffentlich betrachtet er das immer noch als seinen Job.

Ich lasse mich ganz ins Wasser gleiten, blende die Geräusche um mich herum aus. Jetzt müsste die Badewanne sich ausdehnen, dann könnte ich schwimmen, wie an heißen Sommertagen mit meinem Vater im Wald. Das waren ganz besondere Tage. Wir verließen dann schon frühmorgens das Haus und wanderten tiefer in den Wald hinein als sonst, bis zu einem kleinen See, den er bei der Jagd einmal entdeckt hatte. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich schwimmen gelernt habe, so klein war ich, als er es mir beibrachte. Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich immer getaucht bin, im Wasser Purzelbäume schlug und herumplanschte. An den schlammigen Grund des Sees unter meinen Zehen. Den Duft von Blüten und Laub. Wie ich mich auf dem Rücken treiben ließ, so wie jetzt, und in den blauen Himmel schaute, während das Waldgezwitscher vom Wasser ausgeblendet wurde. Er erlegte Wasservögel, die am Ufer nisteten, ich suchte im Gras nach Eiern, und wir beide gruben im seichten Wasser nach Katniss-Knollen, dem Pfeilkraut, nach dem er mich benannt hat. Abends, wenn wir nach Hause kamen, tat meine Mutter so, als würde sie mich nicht wiedererkennen, weil ich so sauber war. Dann bereitete sie ein großartiges Essen aus gebratener Ente und gebackenen Knollen mit Soße.