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Als wir uns dem Baum nähern, schlägt Finnick vor, dass ich die Führung übernehme. »Katniss kann das Kraftfeld hören«, erklärt er Beetee und Johanna.

»Hören?«, fragt Beetee.

»Nur mit dem Ohr, das im Kapitol wiederhergestellt wurde«, sage ich. Beetee kann ich mit der Story natürlich nicht kommen. Bestimmt erinnert er sich noch daran, dass er mir gezeigt hat, wie man ein Kraftfeld entdeckt, wahrscheinlich ist es sogar unmöglich, Kraftfelder zu hören. Aber er verkneift sich einen Kommentar, aus welchem Grund auch immer.

»Dann lasst unbedingt Katniss vorgehen«, sagt er, während er einen Augenblick stehen bleibt, um seine beschlagenen Brillengläser zu putzen. »Mit Kraftfeldern ist nicht zu spaßen.«

Der Gewitterbaum überragt die anderen so sehr, dass er nicht zu verfehlen ist. Ich suche mir ein Büschel mit Nüssen und lasse die anderen anhalten, während ich langsam den Hang hinaufgehe und Nüsse vor mich werfe. Doch ich sehe das Kraftfeld, noch ehe es von einer Nuss getroffen wird, es ist nur fünfzehn Meter entfernt. Ich entdecke die wellige Fläche hoch oben zu meiner Rechten, als ich die Wand aus Grün vor mir absuche. Ich werfe eine Nuss direkt vor mich und höre sie zur Bestätigung zischen.

»Haltet euch unter dem Gewitterbaum«, rufe ich den anderen zu.

Wir verteilen die Aufgaben. Finnick deckt Beetee, der den Baum untersucht, Johanna zapft Wasser, Peeta sammelt Nüsse, und ich gehe in der Nähe jagen. Die Baumratten scheinen keine Angst vor Menschen zu haben, ich erlege sie mühelos. Das Geräusch der Zehn-Uhr-Welle erinnert mich daran, dass es Zeit ist umzukehren, also gehe ich zurück zu den anderen und nehme die Beute aus. Zur Warnung ziehe ich ein paar Meter vor dem Kraftfeld eine Linie in den Boden, dann lassen Peeta und ich uns davor nieder, um Nüsse zu rösten und Rattenwürfel zu braten.

Beetee ist noch immer mit dem Baum beschäftigt, womit genau, weiß man nicht, er misst wohl irgendwas aus. Irgendwann reißt er ein Stück Rinde ab, kommt zu uns und wirft es Richtung Kraftfeld. Die Rinde prallt zurück und landet glühend auf dem Boden. Nach kurzer Zeit hat sie wieder ihre ursprüngliche Farbe angenommen. »Nun, das erklärt einiges«, sagt Beetee. Ich werfe Peeta einen Blick zu und muss mir auf die Lippe beißen, um nicht zu lachen. Das erklärt gar nichts, außer vielleicht für Beetee.

Da hören wir aus dem benachbarten Sektor die Klickgeräusche. Also ist es jetzt elf Uhr. Im Dschungel sind sie viel lauter als gestern Abend am Strand. Wir lauschen konzentriert.

»Mechanisch ist das nicht«, sagt Beetee entschieden.

»Ich tippe auf Insekten«, sage ich. »Käfer oder so.«

»Irgendwas mit Zangen«, meint Finnick.

Das Geräusch schwillt an, als würden unsere Worte die Nähe von lebendigem Fleisch verheißen. Was immer diese Geräusche verursacht, ich wette, es könnte uns in Sekundenschnelle bis auf die Knochen abnagen.

»Jedenfalls sollten wir zusehen, dass wir hier wegkommen«, sagt Johanna. »In weniger als einer Stunde kommt der Blitz.«

Weit gehen wir nicht. Nur bis zu dem Zwillingsbaum im Blutregensektor. Wir lassen uns zu einer Art Picknick nieder, essen unsere Dschungelnahrung und warten auf den Blitz, der anzeigt, dass es Mittag ist. Als das Klicken nachlässt, klettere ich auf Beetees Geheiß in die Baumkrone. Der Blitzeinschlag ist so grell, dass er selbst mich an meinem Platz blendet, trotz des gleißenden Sonnenlichts. Er umschließt den fernen Baum ganz, lässt ihn blauweiß erglühen und die Luft in der Umgebung elektrisch knistern. Ich klettere wieder hinunter und erstatte Beetee Bericht, der zufrieden wirkt, obwohl ich mich nicht sonderlich wissenschaftlich ausdrücke.

In einem Bogen gehen wir zurück zum Zehn-Uhr-Strand. Der Sand ist weich und feucht und von der jüngsten Welle gesäubert. Den Nachmittag gibt Beetee uns mehr oder weniger frei, während er mit dem Draht hantiert. Da es sich um seine Waffe handelt und wir anderen uns ganz auf sein Wissen verlassen, stellt sich das eigenartige Gefühl ein, als hätten wir früher Schulschluss. Anfangs legen wir uns abwechselnd am Rand des Dschungels in den Schatten und schlafen ein Ründchen, doch am späten Nachmittag sind alle wach und voller Anspannung. Da dies unsere letzte Gelegenheit sein könnte, an Meeresgetier zu kommen, beschließen wir, ein Festmahl auszurichten. Unter Finnicks Führung gehen wir mit dem Speer auf die Jagd nach Fischen und sammeln Muscheln, tauchen sogar nach Austern. Das gefällt mir am besten, aber nicht, weil ich so versessen auf Austern wäre. Ich habe nur einmal welche gegessen, damals im Kapitol, und konnte mich mit ihrer schleimigen Konsistenz einfach nicht anfreunden. Aber es ist schön so tief unten im Wasser, wie in einer anderen Welt. Das Wasser ist sehr klar und Schwärme von Fischen in leuchtenden Farben und merkwürdige Seeblumen zieren den Sandboden.

Johanna hält Wache, während Finnick, Peeta und ich unseren Fang säubern und bereitlegen. Peeta bricht eine Auster auf und muss lachen: »He, schaut euch das mal an!« Er hält eine glänzende, vollkommene Perle hoch, so groß wie eine Erbse. »Du weißt ja, wenn man nur genug Druck auf die Kohle ausübt, werden daraus Perlen«, sagt er ganz ernst zu Finnick.

»Stimmt doch gar nicht«, sagt Finnick abschätzig. Aber ich lache mich halb tot. Ich erinnere mich, wie die unbedarfte Effie Trinket uns letztes Jahr, als uns noch kein Mensch kannte und wir noch keine Berühmtheiten waren, den Zuschauern im Kapitol angepriesen hat. Als Kohle, die durch unsere gewichtige Existenz zu Perlen gepresst wurde. Schönheit, die aus Schmerz entstand.

Peeta spült die Perle im Wasser ab und reicht sie mir. »Für dich.« Ich lege sie auf meine Handfläche und betrachte die im Sonnenlicht schimmernde Oberfläche. Ja, ich werde sie behalten. In den wenigen Stunden, die mir in diesem Leben bleiben, werde ich sie bei mir tragen. Dieses letzte Geschenk von Peeta. Das einzige, das ich auch annehmen kann. Vielleicht gibt es mir im letzten Augenblick die nötige Kraft.

»Danke«, sage ich und schließe die Faust. Ungerührt schaue ich in die blauen Augen des Menschen, der nun mein größter Gegner ist; der mein Leben retten will, und wenn es seins kostet. Und ich gebe mir das Versprechen, dass ich seinen Plan durchkreuzen werde.

Aus seinen Augen weicht das Lachen, und er schaut mich so intensiv an, als könnte er meine Gedanken lesen. »Das Medaillon hat nicht gewirkt, was?«, sagt Peeta, obwohl Finnick dabeisteht. Obwohl jeder ihn hören kann. »Katniss?«

»Es hat gewirkt«, sage ich.

»Aber nicht so, wie ich wollte«, sagt er und wendet den Blick ab. Er hat jetzt nur noch Augen für die Austern.

Als wir uns über das Essen hermachen wollen, kommt ein Fallschirm mit zwei Anhängseln herabgesegelt. Ein kleiner Topf mit einer scharfen roten Soße und noch mehr Brötchen aus Distrikt 3. Finnick zählt sie natürlich sofort durch. »Wieder vierundzwanzig«, sagt er.

Macht insgesamt zweiunddreißig Brötchen. Jeder nimmt wieder fünf, sieben bleiben übrig, die wir niemals gerecht aufteilen können. Brot für den einen, der übrig bleiben wird.

Das salzige Fischfleisch, die saftigen Muscheln. Sogar die Austern schmecken, vor allem jetzt mit der Soße. Wir schlagen uns die Bäuche voll, bis keiner mehr papp sagen kann, trotzdem schaffen wir nicht alles. Aber die Reste werden sich nicht halten, deshalb werfen wir sie zurück ins Wasser, damit die Karrieros sie sich nicht unter den Nagel reißen, wenn wir fort sind.

Keiner achtet auf die Muschelschalen. Die Welle wird sie wegschwemmen.

Jetzt können wir nur noch warten. Peeta und ich sitzen am Wasser, Hand in Hand, wortlos. Er hat gestern Abend seine letzte Rede gehalten, doch sie hat bei mir nicht zu einem Sinneswandel geführt, und nichts, was ich sagen könnte, wird bei ihm einen Sinneswandel bewirken. Für überzeugende Geschenke ist es jetzt zu spät.