«Wenn ich wieder etwas höre«, sagte der Brigadier,»hinterlasse ich eine Nachricht bei…«seine Stimme mißbilligte es immer noch,»… bei Mrs. Baudelaire senior. Davon abgesehen. viel Glück.«
Ich dankte ihm, hängte ein und setzte mich ziemlich guter Dinge mit meinen beiden Taschen in ein Taxi zur Union Station.
Das Zugpersonal sammelte sich bereits im Umkleideraum, als ich dort eintraf und mich als Tommy der Schauspieler vorstellte.
Sie lächelten und waren großzügig. Sie hätten immer Spaß an den Krimi-Reisen, sagten sie, und hätten schon mal mit einem Darsteller in ihren Reihen gearbeitet. Alles werde gutgehen, ich würde schon sehen.
Der Oberkellner, Obersteward, Servicechef, wie immer er sich nun nannte, war ein adretter kleiner Franzose namens Emil. Ende Dreißig vielleicht, dachte ich, mit dunklen, leuchtenden Augen.
«Sprechen Sie Französisch?«fragte er als erstes, als er mir die Hand gab.»Alle VIA-Angestellten müssen Französisch sprechen können. Das ist Vorschrift.«
«Ich kann ein bißchen«, sagte ich.
«Dann ist es gut. Der letzte Schauspieler konnte nämlich keins. Diesmal ist der Küchenmeister aus Montreal, und es kann sein, daß wir in der Küche französisch sprechen.«
Ich nickte und sagte ihm nicht, daß, von der Schulzeit abgesehen, mein Umgangsfranzösisch aus Ställen, nicht aus Küchen stammte und wahrscheinlich sowieso eingerostet war. Aber ich hatte auf meinen Reisen mehrere Sprachen halbwegs gelernt, und irgendwie schienen sie mir gleich wieder geläufig, sobald ich einen Fuß auf den entsprechenden Boden setzte. Im zweisprachigen Kanada war alles auf englisch wie auf französisch geschrieben, und mir kam zum Bewußtsein, daß ich seit meiner Ankunft das Französische mühelos gelesen hatte.
«Haben Sie schon mal in einem Restaurant gearbeitet?«fragte Emil.
«Nein.«
Er zuckte gutmütig die Achseln.»Ich werde Ihnen zeigen, wie man die Gedecke auflegt, und heute morgen werden Sie vielleicht erst mal nur Wasser servieren. Wenn Sie etwas einschenken, während der Zug fährt, gießen Sie es nach und nach in kleinen Mengen ein und halten die Tasse oder das Glas dicht an sich. Verstehen Sie? Man muß immer aufpassen, mit kleinen Bewegungen arbeiten.«
«Ich verstehe«, sagte ich, und so war es auch.
Er drückte mir einen Fahrplan in die Hand:»Sie müssen wissen, wo wir anhalten. Die Fahrgäste fragen ständig danach.«
«Okay. Danke.«
Er nickte wohlwollend.
Ich zog mir Tommys Uniform an und lernte ein paar andere vom Personal kennen: Oliver, der wie ich Kellner im Sonderspeisewagen war, und mehrere von den Schlafwagenstewards, einer pro Wagen, über die ganze Länge des Zuges. Dann war da noch ein lächelnder chinesischer Herr, der im vorderen Speisewagen kochte, wo unter anderem die Stallangestellten essen würden, und ein nicht lächelnder Kanadier, der im mittleren, dem Hauptspeisewagen für die Masse der Rennbahnbesucher und das Personal selbst kochen würde. Der französische Küchenchef aus Montreal war, wie ich bald erfuhr, eine Sie und deshalb wohl nur im Damenumkleideraum zu finden.
Jeder legte die ganze Uniform einschließlich des grauen Regenmantels an, und auch ich zog meinen Regenmantel über; ich packte Tommys Reservekleidung und meine eigenen Sachen in die Reisetasche und war fertig.
Nell hatte gesagt, sie werde sich an diesem Sonntagmorgen im Cafe in der Großen Halle mit mir treffen, und mir erklärt, daß das Personal dort oft bis zur Ankunft der Züge wartete. Also ging ich, begleitet von Emil und einigen anderen, mit meinem Gepäck in das Cafe, wo alle sich unverzüglich riesige Stücke Karottenkuchen bestellten, die Spezialität des Hauses, als befürchteten sie eine Hungersnot.
Nell war nicht da, aber Zak und noch ein paar andere Schauspieler; sie saßen zu je vier an einem Tisch, tranken dünnen Orangensaft und aßen keinen Karottenkuchen wegen der Kalorien.
Zak sagte, Nell sei bei den Passagieren im Empfangsbereich, und er wolle gleich mal nachsehen, wie die Sache sich dort anließ.
«Sie sagte was von einem Koffer, den Sie im Gepäckwagen nach Vancouver mitnehmen möchten«, setzte er im Aufstehen hinzu.
«Ja, den hier.«
«Gut. Sie sollen ihn mit rüber zu den Passagieren bringen. Ich zeige es Ihnen.«
Ich nickte, sagte Emil, ich käme wieder, und folgte Zak durch die Große Halle um ein, zwei Ecken und gelangte zu einer Ansammlung von durcheinanderschwatzenden Leuten in einem Bereich ähnlich der Abflughalle eines Flughafens.
Ein riesiges, auf Latten gezogenes Spruchband ließ niemanden im unklaren. Über eine Breite von gut vier Metern stand dort Rot auf Weiß DER GROSSE TRANSKONTINENTALE ERLEBNIS- UND RENNEXPRESS und darunter, in wesentlich kleinerer blauer Schrift, DER ONTARIO JOCKEY CLUB, MERRY & CO UND VIA RAIL VERANSTALTEN EIN FESTIVAL FÜR DEN KANADISCHEN RENN-SPORT.
Die rund vierzig Passagiere, die schon in freudiger Erwartung versammelt waren, hatten Namensschilder und Nelken anstecken und hielten gutgelaunt Gläser mit Orangensaft in den Händen.
«Eigentlich sollte Sekt in dem Orangensaft sein«, sagte Zak trocken.»Ist aber nicht. Hängt mit dem Sonntagsschankgesetz zusammen. «Er suchte von unserem Standort, etwa zwanzig Schritte entfernt im Bahnhofsinneren, die Menge mit den Augen ab.»Da geht Ben ans Werk, sehen Sie? Er bittet Raoul, ihm Geld zu borgen.«
Ich konnte es tatsächlich sehen. Es wirkte unglaublich echt. Die Umstehenden sahen empört und peinlich berührt aus.
Zak nickte neben mir mit seinem Wuschelkopf und hatte angefangen, ziemlich rasch mit den Fingern zu schnippen. Ich spürte förmlich, wie die Energie ihn durchlief, jetzt wo das Spiel zum Leben erwachte, und ich sah, daß er sich angemalt hatte; nicht mit Fettschminke oder sonst was Grellem, nur die Augenbrauen waren dunkler und dichter gezeichnet und dunkler auch der Mund; man konnte eher von Betonung als von Maske sprechen. Ein Schauspieler in der Kulisse, dachte ich, der seine Kräfte sammelte.
Ich entdeckte Mavis und Walter Bricknell, nervös und unruhig wie geplant, und sah und hörte Angelica fragen, ob jemand Steve gesehen hatte.
«Wer ist Steve?«fragte ich Zak.»Ich hab’s vergessen.«
«Ihr Liebhaber. Er verpaßt den Zug.«
Pierre und Donna fingen mit ihrem Streit an, was eine andere Gruppe von Fahrgästen in Verlegenheit brachte. Zak lachte.
«Gut«, sagte er,»das läuft prima.«
Giles-der-Mörder, der im Cafe gewesen war, schlenderte jetzt in das Gedränge hinein und benahm sich furchtbar nett gegenüber ein paar alten Damen. Zak schnippte noch schneller mit den Fingern und begann zu summen.
Die Menge teilte und verlagerte sich ein wenig, und durch die Lücke sah ich Julius Apollo Filmer, einen weiteren Mörder, der furchtbar nett zu einer nicht so alten Dame, nämlich Daffodil Quentin, war.
Fast ehrfürchtig, fast zitternd atmete ich durch. Jetzt, wo es richtig losging, wo ich nah bei ihm sein würde, fühlte ich mich ebenso erregt und mit Tatkraft erfüllt wie Zak, und sicher quälte uns beide der Gedanke, daß nichts schiefgehen durfte.
Daffodil tätschelte Filmer neckisch die Hand.
Igitt, dachte ich.
Ben der Schauspieler erschien neben ihnen und zog seine Nummer ab, und ich sah, wie Filmer sich kühl zu ihm umdrehte, sah, wie sein Mund die unmißverständlichen Worte formte:»Gehen Sie weg.«
Ben zog sich zurück. Sehr klug, dachte ich. Die Reihen schlossen sich wieder, verbargen Filmer und seine Narzisse, und erst als die Verkrampfung in meinen Muskeln nachließ, wurde mir bewußt, daß ich sie überhaupt angespannt hatte. Da mußt du aufpassen, dachte ich.
Die Lorrimores waren eingetroffen, jeder mit dem Gesichtsausdruck von gestern: freundlich, distanziert,hochnäsig, schmollend. Mercer war mit dem Herzen dabei, Bambi auch, aber etwas unterkühlt. Sheridan sah aus, als wähnte er sich zu Besuch in den Slums. Die junge Tochter Xanthe hätte recht hübsch sein können, wenn sie gelächelt hätte.