James Winterbourne der Schauspieler hatte seinen roten Filzhut daheimgelassen, den Stoppelbart abrasiert und wanderte gastfreundlich plaudernd umher in seiner Rolle als Mitglied des Jockey Club. Und auch der echte Jockey Club, sah ich, war vertreten in der Person Bill Baudelaires, der sich mit einem oder zwei Besitzern, die ihn kannten, unterhielt. Ich fragte mich, ob er sich ärgern würde, wenn er mich nicht unter den Fahrgästen sah, und hoffte, er trug es mit Fassung.
Nell tauchte aus dem Lärm der Menge auf und kam, ein Klemmbrett an die Brust gedrückt, mit strahlenden Augen zu uns herüber. Sie trug wieder ein strenges Kostüm, grau diesmal, über einer weißen Bluse, hatte aber, vielleicht dem Anlaß zu Ehren, eine lange, gewundene Schnur mir Korallen, Perlen und Kristallen hinzugefügt.»Es passiert wirklich«, sagte sie.»Kaum zu glauben nach all den Monaten. Ich werde euch beiden keinen Kuß geben, da ich euch offiziell noch gar nicht kenne, aber betrachtet euch als geküßt. Alles läuft gut. Pierre und Donna fetzen sich traumhaft. Wie schafft sie das nur, zu heulen, wann immer sie will? Ist das der Koffer nach Vancouver? Stellen Sie ihn da drüben zu den anderen, die in den Gepäckwagen kommen. Mercer Lorrimore ist nett, was mich sehr beruhigt. Bis jetzt ist kein Unglück geschehen, aber das kommt sicher noch. Ich bin so in Stimmung, und dabei ist gar kein Sekt in dem Orangensaft.«
Sie hielt ein, schöpfte Atem, lachte, und ich sagte:»Nell, wenn Bill Baudelaire Sie fragt, ob ich hier bin, bejahen Sie es nur, sagen Sie nicht, wo.«
Sie war verwirrt, hatte aber keine Zeit zu diskutieren.»Na ja… okay.«
«Danke.«
Sie nickte und wollte sich wieder den Fahrgästen widmen, doch der James-Winterbourne-Darsteller kam herüber, um mit ihr und Zak zu reden.
«Also wirklich«, beklagte er sich.»Jetzt ist der echte Präsident des Ontario Jockey Club aufgetaucht und übernimmt die Bonvoyage-Kiste selber. Ich bin arbeitslos.«
«Wir haben ihn zuerst gefragt«, sagte Nell.»Wir hatten es gleich zu Anfang vorgeschlagen, ehe das Ganze so groß wurde. Er hat offenbar entschieden, daß er doch dabeisein sollte.«»Ja, aber… was ist mit meiner Gage?«
«Die bekommen Sie«, sagte Zak resigniert.»Gehen Sie halt wieder hin, lassen Sie die Sonne scheinen und sagen Sie allen, was für eine tolle Reise sie erwartet.«
«Hab ich doch schon gemacht«, brummte er, kehrte aber gehorsam zu seiner Arbeit zurück.
«Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Nell stirnrunzelnd,»bin ich die Tage benachrichtigt worden, daß der Präsident kommt, aber ich wußte nicht, daß er gemeint war. Ich wußte nicht, um wen es ging. Die Nachricht wurde mir hinterlassen, als ich außer Haus war: >Der Oberst kommt. < Ich kannte keinen Obersten. Ist der Präsident ein Oberst?«
«Ja«, sagte ich.
«Na, ist ja nichts passiert. Ich schau besser mal, ob er was braucht. «Gelassen ging sie davon.
Zak seufzte.»Die Gage hätte ich mir sparen können.«
«Wie meinen Sie das?«
«Oh, Merry & Co gibt mir einen Pauschalbetrag für die KrimiAufführung. Ich engagiere die Schauspieler und bezahle sie, und was am Ende übrig bleibt, gehört mir. Nicht viel manchmal.«
Stimmen erhoben sich plötzlich in der Menge drüben; die Leute liefen auseinander, räumten die Mitte des Platzes und verstummten. Zak und ich gingen unwillkürlich näher heran, er vor mir, ich in seinem Schatten.
Ausgestreckt am Boden lag der Schauspieler Raoul, während Donna und Pierre sich bückten, um ihm aufzuhelfen. Raoul fuhr sich über die Nase, und alle konnten den scharlachroten Streifen auf seinem Handrücken sehen.
Mavis Bricknell sagte laut und entrüstet:»Er hat ihn geschlagen. Er hat ihn geschlagen. Der junge Mann da hat unseren Trainer ins Gesicht gehauen. Er hatte kein Recht, ihn niederzuschlagen.«
Sie wies auf Sheridan Lorrimore, der der Szene den Rücken gekehrt hatte.
Ich blickte Aufklärung heischend Zak an.
«Das«, sagte er verdutzt,»stand nicht im Manuskript.«
Nell bügelte es aus.
Sheridan Lorrimore war nicht zu überhören, als er wütend zu seinem Vater sagte:»Wie zum Teufel sollte ich wissen, daß die geschauspielert haben? Der Kerl war lästig. Da hab ich ihm paar geknallt. Er hat’s verdient. Das Mädchen war am Heulen, und er hat mich bedrängt, mich angerempelt. Das hat mir nicht gepaßt.«
Sein Vater murmelte etwas.
«Entschuldigen?«sagte Sheridan mit hoher Stimme.»Entsch — ach, na schön. Ich entschuldige mich. Reicht das?«
Mercer zog ihn mit sich in eine Ecke, und langsam, zögernd kehrte die allgemeine gute Laune zurück. Pierre, Donna und Raoul ernteten ironisches Lob für die Kraft und Wirksamkeit ihrer Schauspielerei, und Raoul warb um Mitgefühl, gab sich großmütig verzeihend, hielt sich ein Taschentuch an die Nase und untersuchte es auf Blut, aber viel schien nicht dran zu sein.
Zak fluchte und sagte, eigentlich hätte Pierre zu einem etwas späteren Zeitpunkt Raoul zu Boden schlagen sollen, und das müßten sie jetzt ändern. Ich ließ ihn mit seinen Problemen allein, da die Zeit nahte, wo das Personal in den Zug steigen sollte, und Emil hatte mich gebeten, früh genug wieder im Cafe zu sein.
Von den Karottenkuchen waren nur noch Krümel übrig, und die Kaffeetassen waren leer. Die Busladung Pferdepfleger war eingetroffen und saß in einer Gruppe für sich, alle mit Rennexpreß-T-Shirts über den Jeans. Emil sah auf seine Armbanduhr, und jemand anders vom Zugpersonal erschien und sagte, der Computer im Dienstraum unten zeige an, daß der
Sonderzug soeben in den Bahnhof eingefahren sei — Sperre 6, Gleis 7, wie erwartet.
«Bon«, sagte Emil lächelnd.»Tommy, damit beginnen Ihre Pflichten.«
Alles griff zu den Reisetaschen und trottete eher in loser Folge denn als Gruppe hinaus zum Sammelplatz der Passagiere. Als wir näher kamen, hörten wir, wie der echte Präsident des Ontario Jockey Club alle zu dem Abenteuer willkommen hieß, und sahen, wie Zak und die anderen Schauspieler darauf warteten, daß er fertig wurde, damit der Krimi weitergehen konnte.
Jimmy der Schauspieler trug eine rotbraune Bahnhofsuniform der VIA Rail, Zak war konzentriert, und Ricky, jeden Moment reif für Ruhm und Ehre, prüfte in einem kleinen Handspiegel, ob aus der Wunde an seinem Kopf genügend» Blut «austrat.
Zak warf einen Blick auf das Zugpersonal, bemerkte mich und reckte den Daumen. Der Präsident schloß unter Beifall. Zak tippte Ricky an, der den Spiegel weggesteckt hatte, und Ricky zog sehr überzeugend seine» Man hat mich überfallen«-Nummer ab.
Emil, das Personal und ich vergeudeten keine Zeit mit Zuschauen. Wir gingen weiter und kamen zu Sperre 6, im wesentliehen eine Treppe, die hinaus zum Bahnsteig führte. Obwohl es heller Morgen war, war das Licht hier trüb und künstlich, da die hohe, gewölbte Überdachung das kanadische Wetter aussperrte.
Der große Zug stand da, schwach zischend, silbern, unerhört wuchtig, erstreckte sich nach beiden Seiten, so weit man in dem Halbdunkel nur blicken konnte. Im Büro von Merry & Co hatte ich erfahren, daß jeder Wagen (gebaut aus starkem, unlackiertem, waagerecht gewelltem Aluminium) sechsundzwanzig Meter lang war, und mit den Pferden, dem Gepäck und den Lorrimores waren es insgesamt fünfzehn
Wagen. Nahm man Lok und Maschinenwagen hinzu, dann kam dieser Zug im Stehen auf über vierhundert Meter.
Zwei Achtelmeilen, dachte ich respektlos, auf Rennmaß gebracht. Die Strecke dreimal um den Zug war länger als das Derby.
Ein weiteres breites Spruchband, Duplikat desjenigen im Bahnhofsgebäude, war an der Seite des Zuges befestigt und sagte den Reisenden, worauf sie sich einließen, falls daran immer noch Zweifel bestanden. Das Personal verteilte sich nach rechts und links, entsprechend dem jeweiligen Arbeitsplatz, und ich stieg hinter Emil nicht in den Speisewagen, sondern in einen der Schlafwagen ein.
Emil sah kurz in ein Notizbuch, hievte seine Reisetasche auf die Gepäckablage eines kleinen Schlafraums und wies mich an, meine Tasche im Nachbarabteil unterzubringen. Er sagte, ich solle meinen Regenmantel und meine Jacke ausziehen und beides auf die dafür vorgesehenen Bügel hängen. Als das getan war, schloß er beide Türen, und wir stiegen wieder aus.