George verließ leise lachend den Pferdewaggon, und gemeinsam schlängelten wir uns weiter durch den Zug, wobei George immer mal anhielt, um bei den einzelnen Schlafwagenstewards nachzuhören, was es Neues gab, und eventuelle Fragen zu klären. Im Aussichtswagen wurde gesungen, und die Rennbahnbesucher im Dayniter hatten etwa vier getrennte Kartenrunden gebildet, in denen das Geld flott herumging.
Der überlastete und mißmutige Koch im mittleren Speisewagen hatte nicht völlig die Geduld verloren, und nur wenige Fahrgäste hatten beanstandet, daß die Abteile zu eng seien; die an sich häufigste Beschwerde, sagte George.
Niemand war krank, niemand war betrunken, niemand prügelte sich. Alles lief so glatt, meinte George, daß man jeden Moment auf ein Unglück gefaßt sein mußte, eh?
Wir kamen zu guter Letzt zu seinem Büro, das im wesentlichen ein Einbettabteil war wie meines auch, also ein 7 mal 4 Fuß großer Raum auf einer Seite des Durchgangs, ausgestattet mit Waschbecken, Klapptisch und zwei Sitzen, deren einer das verbarg, was der Begleitprospekt genierlich als» sanitäre Einrichtung «bezeichnete. Man konnte die Schiebetür entweder offenlassen und schauen, was draußen auf dem Gang geschah, oder sich in einen privaten Kokon einschließen; und nachts klappte man das Bett von der Decke auf den Sitz der sanitären Einrichtung herunter, womit sie effektiv außer Dienst gestellt war.
George bat mich herein und ließ die Tür auf.
«Dieser Zug«, sagte er, als er es sich in dem Sessel bequem machte und mir die sanitäre Einrichtung zuwies,»ist ein Triumph der Diplomatie, eh?«
Er hatte ein ständiges Lächeln in den Augen, als fände er, das ganze Leben sei ein Witz. Später wurde mir klar, daß er Dummheit für die Norm menschlichen Verhaltens hielt und daß nach seiner Ansicht niemand dümmer war als Passagiere, Politiker, Presseleute und die Leute, die ihm Arbeit gaben.
«Inwiefern«, fragte ich,»ist es ein Triumph?«
«Der gesunde Menschenverstand ist ausgebrochen.«
Ich wartete. Er strahlte und fuhr nach einer Weile fort:»Die Lokführer ausgenommen, bleibt bis Vancouver das gleiche Personal im Zug!«
Ich wirkte nicht hinreichend beeindruckt auf ihn.
«Das ist noch nie dagewesen, eh?«sagte er.»Die Gewerkschaften erlauben es nicht.«
«Oh.«
«Außerdem gehört der Pferdewaggon der Canadian Pacific.«
Ich schaute noch verständnisloser drein.
Er kicherte.»Die Canadian Pacific und VIA Rail, die so eng zusammenarbeiten, vertragen sich wie Schmirgelpapier, immer gut für Reibereien. Canadian-Pacific-Züge sind Güterzüge, und VIA-Züge befördern Personen, und nie sollen die zwei sich verbinden. Der Zug hier ist eine Verbindung. Ein Wunder, eh?«
«Sicherlich«, sagte ich ermutigend.
Er funkelte mich mitleidig an wegen meines mangelnden Verständnisses für die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Ich fragte, ob sein Telefon am nächsten großen Halt funktionieren würde, eine Sache, die ich als wichtig einstufte.
«Sudbury?«sagte er.»Natürlich. Aber da bleiben wir ungefähr eine Stunde. Vom Bahnhof aus ist es viel billiger. Ein Bruchteil vom Preis.«
«Aber hier ist man ungestörter.«
Er nickte gleichmütig.»Kommen Sie her, sobald wir vor Sudbury das Tempo runternehmen. Ich lasse Sie dann hier allein. Ich habe auf dem Bahnhof zu tun.«
Ich dankte ihm für alles und verließ die Einflußsphäre seines strahlenden Lächelns, wohl wissend, daß auch ich ein Beispiel für die allgemein verbreitete Dummheit abgab. George konnte ich noch sehr oft sehen, dachte ich, bevor er mich langweilen würde.
Meine eigene Tür war, wie ich feststellte, nur zwei Türen von seiner entfernt, auf der rechten Zugseite, wenn man nach vorn schaute. Ich ging ohne anzuhalten daran vorbei und sah, daß im vorderen Teil des Wagens insgesamt sechs Einbettabteile waren, drei auf jeder Seite. Dann machte der Gang einen Knick, um vier Zweibettabteilen Platz zu bieten, und führte nach einem weiteren Knick zentral durch einen Bereich mit offenen, durch Vorhänge verschließbaren Abteilen. Die sechs offenen Abteile dieses Wagens waren zwölf Schauspielern und Mitgliedern des Personals zugeteilt, von denen die meisten gerade lasen, sich unterhielten oder fest schliefen.
«Wie läuft’s?«sagte Zak gähnend.
«Alles ruhig an der Westfront.«
«Passiere, Freund.«
Ich lächelte und ging weiter durch den Zug, bekam jetzt ein Gefühl für ihn, verstand, wie er angelegt war, hätte gern auch mehr gewußt über Dinge wie Elektrizität, Wasserversorgung und Kanalisation. Eine kleine moderne Stadt auf Achse, dachte ich, mit der ganzen notwendigen Infrastruktur.
In den Schlafwagen der Besitzer (wo es fast keine offenen Abteile gab) waren alle Türen dicht, denn hier legte man Wert auf Ungestörtheit. Die Räume hätten leer sein können, es ließ sich unmöglich sagen, und als ich in den Sonderspeisewagen kam, fand ich tatsächlich eine ganze Reihe der Passagiere an den ungedeckten Tischen sitzen, nur zum Plaudern. Ich ging zum Aussichtswagen durch, wo es noch drei Schlafräume gab, bevor man in die Bar kam, die ausgestattet war mit Tischen, Sitzplätzen und Barmann. Auch hier saßen einige Leute und unterhielten sich, und wieder andere saßen weiter hinten, in dem langen unteren Gesellschaftsraum.
Von dort führte eine kleine Treppe hoch zum Aussichtsdeck, und ich ging kurz hinauf. Die vielen Sitze hier waren fast alle belegt; die Fahrgäste genossen den ungehinderten Blick auf eine Million leuchtender Bäume unter blauem Himmel und brieten in der heißen Sonne, die durch das Glasdach hereinstrahlte.
Mr. Young war dort oben und schlief. Julius Apollo war nicht da und auch nirgendwo sonst für die Öffentlichkeit sichtbar.
Nell hatte ich ebenfalls nirgends gesehen. Ich wußte nicht, wo sie sich bei ihrer häufigen Umverteilung der Schlafplätze schließlich untergebracht hatte, aber wo immer sie sein mochte, es war hinter einer geschlossenen Tür.
Da nach dem Aussichtswagen nur noch der Privatwagen der Lorrimores kam, den ich schwerlich betreten konnte, kehrte ich um in der Absicht, mich in mein Abteil zurückzuziehen und die
Landschaft auf mich wirken zu lassen.
Im Speisewagen wurde ich von Xanthe Lorrimore aufgehalten, die allein an einem Tisch saß und mürrisch aussah.
«Bringen Sie mir eine Cola«, sagte sie.
«Sehr wohl«, sagte ich und holte eine aus dem Kühlschrank in der Küche, herzlich froh, daß ich zufällig mitbekommen hatte, wo die Softdrink-Dosen waren. Ich stellte die Dose und ein Glas auf eines der kleinen Tabletts (geleitet von Emils Stimme, die sagte:
«Niemals den Gegenstand tragen. Tragen Sie das Tablett.«) und kehrte zu Xanthe zurück.
«Das müßte leider bar bezahlt werden«, sagte ich, als ich das Glas auf den Tisch stellte und mich anschickte, die Dose zu öffnen.
«Was heißt das denn?«
«Sachen aus der Bar gehen extra. Sie sind nicht im Fahrpreis Inbegriffen.«
«Ist doch lachhaft. Außerdem habe ich kein Geld.«
«Sie können gern später zahlen.«
«Ich find das blöd.«
Ich riß die Dose auf und goß die Cola ein, und Mrs. Young, die zufällig allein am Nebentisch saß, drehte sich um und sagte liebenswürdig zu Xanthe, sie, Mrs. Young, werde die Cola bezahlen und ob Xanthe sich nicht zu ihr setzen wolle.
Xanthes erster Impuls war offensichtlich, abzulehnen, doch motzig oder nicht, sie war auch einsam, und Mrs. Young hatte etwas großmütterlich Gütiges an sich, das ein unkritisch lauschendes Ohr versprach. Xanthe zog mit ihrer Cola um und packte damit aus, was sie gerade bewegte.
«Mein Bruder«, sagte sie,»ist ein Arschloch.«
«Vielleicht hat er so seine Probleme«, meinte Mrs. Young gelassen, während sie in ihrer geräumigen, unübersichtlichen Handtasche nach Geld kramte.
«Wäre er der Sohn von jemand anders, säße er im Gefängnis.«
Die Worte sprudelten hervor wie von einem unwiderstehlichen Gefühlsdruck freigesetzt. Xanthe schien selbst erschrocken über das, was sie da herausgelassen hatte, und versuchte lahm, die Wirkung abzuschwächen.»Das habe ich natürlich nicht wörtlich gemeint. «Hatte sie aber.