Mrs. Young, die sich bei ihrer Suche unterbrochen hatte, fand schließlich ihre Geldbörse und gab mir einen Dollar.
«Was zuviel ist, können Sie behalten«, sagte sie.
«Danke, Madam.«
Mir blieb nichts übrig als zu gehen, und ich klemmte den Dollar mit meinem Daumen fest und trug ihn wie einen Ehrenpreis auf dem Tablett zur Küche. Von dort zurückschauend, sah ich, wie Xanthe anfing, mit Mrs. Young zu reden, langsam erst, mit angezogenen Bremsen, und dann immer schneller, bis das ganze Unglück hervorströmte wie eine Flut. Ich konnte Xanthes Gesicht sehen und den Hinterkopf von Mrs. Young. Xanthe, so schien mir, war vielleicht sechzehn, wahrscheinlich aber jünger; bestimmt nicht älter. Sie hatte noch die Gesichtskonturen der Kindheit — rundes Kinn, Augen mit großen Pupillen; dazu kastanienbraunes Haar in Hülle und Fülle und eine heranreifende Figur, verborgen unter einem weiten weißen Pulli mit einem glitzernd rosa Popslogan vorne drauf, das Abzeichen der Jugend.
Sie unterhielten sich noch, als ich weiter zu meinem Abteil ging, wo ich eine Weile in ungestörter Behaglichkeit saß und den Fahrplan studierte. Außerdem ging mir durch den Kopf, daß zu den alten Fragen, auf die ich noch immer keine Antwort hatte, jetzt ein ganzes Paket neuer hinzugekommen war, vor allem die, ob Filmer bereits gewußt hatte, daß die Youngs mit Ezra Gideon befreundet waren. Genau gesagt, ob die Youngs eine Art Zielscheibe waren. Und doch hatte Filmer sich ihren Tisch nicht ausgesucht; dort zu sitzen war eine willkürliche Entscheidung von Daffodil gewesen. Vielleicht hätte er, wenn der Zufall ihm nicht in die Hände gespielt hätte, eine Begegnung herbeigeführt. Oder war ihre Freundschaft mit Gideon bloß ein unwillkommenes Zusammentreffen, wie ich zuerst angenommen hatte? Die Zeit würde vielleicht die Antwort bringen.
Im Augenblick sagte mir die Uhr, daß es halb sechs war, Zeit, mich im Speiseraum zurückzumelden, und als ich dorthin kam, war jeder einzelne Platz bereits besetzt — die Reisenden hatten schnell gelernt. Nachzügler standen etwas ratlos in den Eingängen.
Filmer, sah ich sofort, saß auf dem Platz gegenüber Mercer Lorrimore. Daffodil, neben ihm, saß Bambi gegenüber, die sich unterkühlt freundlich gab.
Xanthe saß immer noch am Tisch von Mrs. Young, zu der sich jetzt auch ihr Mann wieder gesellt hatte. Sheridan war, soweit ich sehen konnte, abwesend. Giles-der-Mörder war präsent, saß bei den Youngs und Xanthe, nett wie immer.
Emil, Oliver, Cathy und ich gingen von Tisch zu Tisch, gossen mit kleinen Bewegungen Wein, Tee oder Kaffee in Gläser oder Tassen auf kleinen Tabletts, und als das getan war, preschte Zak mit neuer Energie geladen auf den Schauplatz, um den Krimi voranzubringen.
Ich hörte mir nicht alles im einzelnen an, doch es drehte sich um Pierre und Donna und Raoul den Galopprenntrainer, der ihr Geld heiraten wollte. Zak hatte die überflüssig gewordene Pierre-schlägt-Raoul-zu-Boden-Szene dadurch ersetzt, daß er Donna Raoul ohrfeigen ließ, und die langte mit einer solchen Wucht hin, daß den Zuschauern die Luft wegblieb. Donna wurde klar als die hoffnungslos verknallte Tochter der nervenschwachen Bricknells herausgestellt, und Mavis war offensichtlich mehr für Raoul als für Pierre, den sie als spielwütigen Taugenichts verabscheute. Mutter und Tochter fingen an, sich schwere Beschimpfungen an den Kopf zu werfen, wovon Walter sie aufgeregt abzubringen suchte. Schließlich begann Mavis zu heulen.
Ich betrachtete die Gesichter der Fahrgäste. Obwohl sie wußten, daß es sich da um Schauspieler handelte, waren sie alle gebannt. Eine Seifenoper war hautnah zum Leben erwacht. Ich hatte immer geglaubt, Rennsportfreunde gehörten zu den zynischsten Leuten der Welt, doch hier waren einige der erfahrensten unter ihnen unwillkürlich bewegt und betroffen.
Zak hielt die Spannung aufrecht, indem er sagte, bei unserem letzten kurzen Zwischenhalt sei ihm ein Telex über Angelicas vermißten Freund Steve ausgehändigt worden. War Angelica anwesend? Alle schauten sich um: Nein, sie war nicht da. Macht nichts, sagte Zak; würde ihr bitte jemand ausrichten, sie solle Steve von Sudbury aus anrufen, er habe wichtige Neuigkeiten für sie.
Viele Leute nickten. Es war erstaunlich.
In Seide gekleidet und juwelenbehangen — wohl zum Beweis, daß Donnas Erbschaft kein Hirngespinst war —, stolperte Mavis Bricknell hinaus zur Toilette am Eingang des Aussichtswagens, um, wie sie sagte, ihr ruiniertes Gesicht in Ordnung zu bringen, und kam bald darauf laut schreiend zurück.
Angelica, so schien es, lag auf dem Boden der Toilette, mausetot. Zak eilte natürlich hin, um zu ermitteln, und ein beachtlicher Teil des Publikums folgte ihm. Die ersten kamen bald wieder, lächelten schwach und wirkten verunsichert.
«Sie kann ja nicht wirklich tot sein«, sagte jemand ernst.»Aber so aussehen tut sie weiß Gott.«
Offenbar war die kleine Kabine ganz voll» Blut«, und Angelicas eingeschlagener Kopf ruhte im Schatten hinter dem Kernstück der sanitären Einrichtung. Angelicas Augen starrten, gerade noch sichtbar, ohne zu blinzeln gegen die Wand.»Wie macht sie das nur?«sagten einige.
Zak kam zurück, sah sich um und winkte mich zu sich.
«Stellen Sie sich bitte vor die Tür dort und lassen Sie niemanden rein, ja?«
Ich nickte und ging zwischen den Leuten durch zum Aussichtswagen. Zak selbst rief jedermann zurück in den Speiseraum und sagte, sie sollten alle zusammenbleiben, bis wir Sudbury erreichten; wir würden bald dort sein. Ich konnte Nells Stimme hören, die ruhig erklärte, daß alle noch Zeit für einen Drink hätten. In Sudbury hätten wir eine Stunde Aufenthalt, so daß jeder sich die Beine vertreten könne, und gleich nach der Abfahrt des Zuges werde das Dinner serviert.
Ich ging durch den klappernden, zugigen Verbindungsgang zwischen Speise- und Aussichtswagen und blieb vor der Toilette stehen. Erfreut war ich nicht gerade über Zaks Einfall, da ich nicht riskieren wollte, daß man mich für einen Schauspieler hielt, obwohl das immer noch sehr viel besser gewesen wäre als die Wahrheit.
Es war langweilig, auf dem Gang zu stehen, erwies sich aber auch als notwendig, denn einige Passagiere kamen wieder, um noch einen Blick auf die Leiche zu tun. Sie nahmen es gutgelaunt hin, daß ich sie wegschickte. Unterdessen hörte man die Leiche, die wohl schließlich doch hatte blinzeln müssen, drinnen die Wasserspülung betätigen.
Als wir verlangsamten, klopfte ich an die Tür.»Nachricht von Zak«, sagte ich.
Die Tür öffnete sich einen Spalt weit. Angelicas Fettschminkenbemalung war ein helles Blaugrau, ihr Haar ein Wust von Tomatenketchup.
«Schieben Sie den Riegel vor«, sagte ich.»Zak kommt gleich. Schließen Sie auf, wenn Sie seine Stimme draußen hören.«
«Gut«, sagte sie, sehr lebendig und vergnügt.»Angenehme Reise noch.«
Kapitel 8
Angelica verließ den Zug auf einer Bahre bei Einbruch der Dunkelheit im hellen Bahnhofslicht, den tomatenfarbenen Kopf halb von einer Decke verhüllt, während eine leblose Hand mit rotlackierten Nägeln und funkelnden Ringen kunstvoll an der Seite herunterbaumelte, so daß die Reisenden sie fasziniert betrachten konnten.
Ich verfolgte die Szene durchs Fenster von George Burleys Dienstraum, während ich mich mit der Mutter von Bill Baudelaire am Telefon unterhielt.
Das Gespräch war von Anfang an eine Überraschung gewesen, denn eine beschwingte junge Frauenstimme hatte sich gemeldet.
«Könnte ich bitte Mrs. Baudelaire sprechen?«sagte ich.
«Am Apparat.«
«Ich meine… Mrs. Baudelaire senior.«
«Jede Mrs. Baudelaire, die älter ist als ich, liegt unter der Erde«, verkündete sie.»Wer sind Sie?«
«Tor Kelsey.«
«Ah ja«, erwiderte sie prompt.»Der unsichtbare Mann.«