Ich lachte halb.
«Wie stellen Sie das an?«fragte sie.»Ich wüßte es schrecklich gern.«
«Im Ernst?«
«Natürlich im Ernst.«
«Nun… sagen wir mal, es bedient Sie jemand öfters in einem Geschäft, dann erkennen Sie ihn, wenn Sie in dem Laden sind; begegnen Sie ihm aber ganz woanders, auf dem Rennplatz etwa, dann kommen Sie nicht drauf, wer es ist.«
«Richtig. So ist es mir schon oft ergangen.«
«Um mühelos erkannt zu werden«, sagte ich,»muß man in seiner gewohnten Umgebung sein. Die Kunst der Unsichtbarkeit besteht also darin, keine gewohnte Umgebung zu haben.«
Es wurde still, dann sagte sie:»Danke. Das muß ja einsam sein.«
Darauf fiel mir keine Antwort ein, doch ihr Scharfsinn erstaunte mich.
«Interessant ist«, sagte ich,»daß es für die Leute, die in dem Laden arbeiten, ganz anders aussieht. Haben die ihre Kunden erst mal kennengelernt, erkennen sie sie an jedem Ort der Welt wieder. Ebenso erkenne ich die Leute aus dem Rennsport, die mir bekannt sind, überall. Sie hingegen wissen nicht, daß es mich gibt… und das ist Unsichtbarkeit.«
«Sie sind«, sagte sie,»ein außergewöhnlicher junger Mann.«
Wieder war ich um eine Antwort verlegen.
«Aber Bill wußte, daß es Sie gibt«, sagte sie,»und er erzählte mir, daß er Sie nicht erkannt hat, als Sie vor ihm standen.«
«Er hat nach dem vertrauten Drumherum Ausschau gehalten… glattes Haar, keine Sonnenbrille, guter grauer Anzug, Schlips und Kragen.«
«Ja«, sagte sie.»Ob ich Sie wohl erkenne, wenn wir uns begegnen?«
«Dann sage ich Ihnen Bescheid.«
«Abgemacht.«
Das, so dachte ich erleichtert und erfreut, war ja eine tolle Brieftaube.
«Würden Sie Bill etwas ausrichten?«fragte ich.
«Nur zu. Ich schreib’s auf.«
«Der Zug trifft morgen abend gegen halb acht in Winnipeg ein, und alles steigt aus, um in die Hotels zu fahren. Würden Sie
Bill bitte sagen, daß ich nicht das gleiche Hotel nehme wie die Besitzer und auch nicht zum Lunch des Vereinspräsidenten gehe, daß ich aber beim Pferderennen sein werde, auch wenn er mich nicht sieht.«
Ich hielt inne. Sie wiederholte, was ich gesagt hatte.
«Bestens«, sagte ich.»Und würden Sie ihm ein paar Fragen stellen?«
«Schießen Sie los.«
«Bitten Sie ihn um allgemeine Auskunft über ein Ehepaar Young, dem ein Pferd namens Sparrowgrass gehört.«
«Das ist im Zug«, sagte sie.
«Ja, richtig. «Ich war überrascht, doch sie sagte, Bill habe ihr für den Telefondienst eine Liste zusammengestellt.
«Außerdem bekommt er vielleicht heraus«, sagte ich,»ob Sheridan Lorrimore sich, abgesehen von dem tätlichen Angriff auf einen Schauspieler in Toronto, jemals etwas geleistet hat, wofür er ins Gefängnis gehört hätte.«
«Du liebe Güte. Die Lorrimores kommen nicht ins Gefängnis.«
«Scheint so«, sagte ich trocken,»und würden Sie ihn bitte auch fragen, welche Pferde in Winnipeg starten und welche in Vancouver, und welches nach Bills Ansicht das wirklich beste Pferd im Zug ist, nicht unbedingt der Form nach, und welches die beste Aussicht hat, die beiden Rennen zu gewinnen.«
«Für die erste Frage brauche ich Bill nicht, die kann ich Ihnen gleich beantworten, das steht auf der Liste. Fast alle elf Pferde, genau gesagt neun, laufen in Vancouver. Nur Upper Gumtree und Flokati laufen in Winnipeg. Was die zweite Frage angeht, so werden meiner Meinung nach weder Upper Gumtree noch Flokati in Winnipeg siegen, da Mercer Lorrimore sein Prachtpferd Premiere per Transporter anrollen läßt.«
«Hm. «sagte ich.»Sie befassen sich viel mit Rennsport?«»Mein lieber junger Mann, hat Bill Ihnen das nicht erzählt? Sein Vater und ich waren jahrelang die Besitzer und Herausgeber der Ontario Raceworld, bevor wir sie an einen Konzern verkauft haben.«
«Jetzt verstehe ich«, sagte ich schwach.
«Und was das Rennen in Vancouver betrifft«, fuhr sie munter fort,»so könnte Laurentide Ice, der vierbeinige Gletscher, ebensogut gleich schmelzen, aber Sparrowgrass und Voting Right haben eine gute Chance. Sparrowgrass tritt wahrscheinlich als Favorit an, denn er ist in gleichbleibend guter Form, aber da Sie schon fragen — das beste Pferd, das zukunftsreichste ist sehr wahrscheinlich Mercer Lorrimores Voting Right, und das würde ich vornean setzen.«
«Mrs. Baudelaire«, sagte ich,»Sie sind ein Juwel.«
«Kostbarer als Rubine«, stimmte sie zu.»Sonst noch etwas?«
«Nichts, außer… ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
«Nein, nicht besonders. Nett, daß Sie fragen. Wiederhören, junger Mann. Ich bin immer hier.«
Sie legte rasch den Hörer auf, als wollte sie mich daran hindern, weiter nach ihrer Krankheit zu fragen, und das erinnerte mich stark an meine Tante Viv, wach, lebhaft und pferdenärrisch bis zum Schluß.
Ich kehrte in den Speisewagen zurück, wo Oliver und Cathy die Tische fürs Abendessen deckten, und half ihnen automatisch, obwohl sie sagten, ich brauchte es nicht. Anschließend begaben wir uns zur Küchentür, um zu sehen, was da kochte, und ließen uns von Angus die Speisekarten geben, die verteilt werden sollten.
Blinis mit Kaviar, lasen wir, gefolgt von Lammkeule oder kaltem Räucherlachs, dann Schokoladenmousse mit Sahne.
«Wird nichts übrigbleiben«, seufzte Cathy, und soweit es die Blinis betraf, hatte sie recht, aber Lamm aßen wir nachher doch alle.
Durch die bollernden Herde und Gaskocher war es sogar auf der Speiseraumseite der Küche sengend heiß. Hinten, wo der Chef arbeitete, zeigte ein Thermometer an der Wand 39 Grad an, doch der große, gertenschlanke Angus, dessen hohe Mütze fast an die Decke stieß, wirkte kühl und gelassen.
«Haben Sie keine Klimaanlage?«fragte ich.
Angus sagte:»Im Sommer schon. Oktober ist aber offiziell Winter, so warm er dieses Jahr auch gewesen sein mag. Die Klimaanlage wird mit Freon-Gas betrieben, und das ist restlos verbraucht, es wird erst im Frühjahr wieder aufgefüllt. Sagt mir Simone.«
Simone, gut einen Kopf kleiner und mit schweißbedeckten Schläfen, nickte stumm.
Die Fahrgäste kamen nach und nach zurück, sagten, es sei kalt draußen, während sie sich aus ihren Mänteln schälten, und wieder füllte sich der Speisewagen. Die Lorrimores saßen diesmal alle beieinander. Die Youngs waren mit den Unwins aus Australien zusammen, und Filmer und Daffodil teilten sich einen Tisch mit einem Paar, von dem Nell mir später sagte, es seien die amerikanischen Besitzer des Pferdes Flokati.
Filmer, hochelegant in dunklem Anzug und grauer Krawatte, nahm Daffodil eifrig ihren Chinchilla ab und hängte ihn über die Lehne ihres Sitzes. Sie schimmerte in einem enganliegenden schwarzen Kleid, ließ bei jeder Bewegung Diamanten blitzen und übertraf mühelos die restliche Gesellschaft (selbst Mavis Bricknell) an zur Schau gestelltem Wohlstand.
Der Zug fuhr unauffällig elegant ab, und ich tat mein Bestes mit Wasser und Stangenbrot.
Bambi Lorrimore hielt mich an, indem sie die Hand auf meinen Arm legte, als ich vorüberkam. Sie trug eine Nerzjacke und bemühte sich gerade, da herauszuschlüpfen.
«Bringen Sie die Jacke in unseren Privatwagen, ja?«sagte sie.
«Hier ist es zu warm dafür. Legen Sie sie in den Salon, nicht ins Schlafzimmer.«
«Natürlich, Madam«, stimmte ich zu und half ihr eilfertig.
«Sehr gern.«
Mercer zog einen Schlüssel hervor und gab ihn mir mit der Erklärung, daß ich zu einer verschlossenen Tür kommen würde.
«Schließen Sie beim Hinausgehen wieder ab.«
«Ja, Sir.«
Er nickte, und ich ging, die Jacke überm Arm, durch den Aussichtswagen nach hinten und betrat mit ziemlich großem Interesse das Privatquartier der Lorrimores.
Überall brannte Licht. Ich kam zunächst in eine kleine, leere Schlafkammer, dann zu einer Küche, kalt und leblos. Raum für private Verpflegung und private Bedienung, aber keine Vorräte, kein Personal. Dahinter war die verschlossene Tür und hinter dieser ein hübsches kleines Eßzimmer mit Platz für acht Personen. Von dort führte ein Gang zu drei Schlafzimmern, bei zweien stand die Tür offen. Ich warf rasch einen Blick hinein: Bett, Vertikos, kleines Bad mit Dusche. Das eine war offensichtlich Xanthes, das andere demnach Sheridans. Ich betrat nicht das Zimmer der Eltern, sondern ging daran vorbei und fand mich im hinteren Teil des Wagens wieder, ganz am Ende des Zuges.