Es war ein gemütliches Wohnzimmer mit Fernseher und üppigen Sesseln in blauen und grünen Pastelltönen. Ich ging zur rückwärtigen Tür und schaute hinaus, sah einen kleinen offenen Perron mit einem blanken Messinggeländer und dahinter das in der Dunkelheit entschwindende Schienenpaar der Canadian Pacific. Die Bahnstrecke quer durch Kanada, so hatte ich erfahren, war größtenteils eingleisig geführt. Nur in Städten und an einigen anderen Orten konnten Züge, die aus entgegengesetzten Richtungen kamen, einander passieren.
Ich legte die Nerzjacke auf einen Sessel und kehrte um, sperrte die Tür wieder ab und gab den Schlüssel schließlich Mercer zurück, der wortlos nickte und ihn einsteckte.
Emil schenkte Wein aus. Die Passagiere machten sich über die Blinis lustig. Ich fügte mich wieder in das Gesamtbild ein und blieb dabei so schemenhaft wie möglich. Nur wenige Leute sahen einem Kellner direkt in die Augen, stellte ich fest, auch wenn sie mit ihm sprachen.
Etwa eine Stunde nach der Abfahrt aus Sudbury hielten wir kurz, weniger als fünf Minuten, an einem Ort namens Cartier und fuhren dann weiter. Die Passagiere, gesättigt von Lamm und Schokoladenmousse, trödelten beim Kaffee und wanderten allmählich zur Bar des Aussichtswagens hinüber. Xanthe Lorrimore, die nach einiger Zeit aufstand, ging ebenfalls in diese Richtung und kam bald darauf schreiend zurück.
Diesmal war es echt. Sie stolperte in den Speisewagen, und hinter ihr hörte man Leute wild durcheinanderrufen.
Sie erreichte ihre Eltern, die verblüfft und auch beunruhigt waren.
«Ich hätte tot sein können«, sagte sie fassungslos.»Beinah wäre ich ins Leere gestürzt. Ich meine, ich hätte tot sein können.«
«Liebling«, sagte Mercer beruhigend,»was ist denn eigentlich passiert?«
«Du hast ja keine Ahnung. «Sie schrie, sie bebte, war hysterisch.
«Ich bin fast ins Leere gestürzt, weil unser Privatwagen nicht da ist.«
Das ließ beide Lorrimores ungläubig aus den Sitzen hochfahren, doch sie brauchten nur auf die sich hinter Xanthe drängenden Gesichter zu sehen, um zu wissen, daß es stimmte.
«Und sie sagen, alle diese Leute sagen…«, sie rang nach Luft, fast außerstande, die Worte herauszubringen, schrecklich verängstigt,»… sie sagen, der andere Zug, der reguläre Canadian, ist nur eine halbe Stunde hinter uns und knallt da. knallt da drauf… versteht ihr nicht?«
Die Lorrimores und alle, die noch im Speiseraum waren, stürmten los zum Aussichtswagen, doch Emil und ich schauten uns an, und ich sagte:»Wie können wir diesen Zug warnen?«
«Wir müssen den Zugführer verständigen. Er hat ein Funkgerät. «I
«Mach ich«, sagte ich.»Ich weiß, wo sein Büro ist. Ich finde ihn schon.«
«Beeilen Sie sich.«
«Ja.«
Ich beeilte mich. Rannte. Erreichte Georges Büro.
Niemand da.
Ich lief weiter, rannte, wo ich konnte, und sah ihn mir durch den Dayniter entgegenkommen. Er erfaßte sofort, daß ich schlechte Neuigkeiten brachte, und steuerte mich prompt in den lärmenden Verbindungsgang zwischen Dayniter und mittlerem Speisewagen.
«Was gibt’s?«brüllte er.
«Der Privatwagen der Lorrimores ist abgekuppelt. er muß irgendwo weiter hinten auf der Strecke sein, und der Canadian kommt.«
Er bewegte sich schneller, als ich es irgendwem an Bord eines Zuges zugetraut hätte, und sprach bereits über Funk, als ich seinen Dienstraum erreichte.
«In Cartier war der Privatwagen noch dran«, sagte er.»Ich stand draußen und sah ihn. Sind Sie sicher, daß er nicht noch dort ist?«Er hörte zu.»Gut, dann funken Sie den Canadian an und geben Sie dem Zugführer Bescheid, daß er in Cartier bleibt, eh? Ich halte unseren Zug an, und wir holen uns den vermißten Wagen. Schauen, was los ist. Am besten verständigen Sie auch Toronto und Montreal. Die werden das an einem Sonntagabend nicht besonders lustig finden, eh?«Er lachte leise, sah mich in der Tür stehen und blickte mich abschätzend an.»Ich lasse einen Mann hier am Funkgerät«, fuhr er fort.»Melden Sie ihm, wenn der Canadian über die Lage verständigt ist, eh?«
Er nickte auf die Antwort, die er hörte, nahm den Kopfhörer ab und gab ihn mir.
«Sie sprechen mit dem Fahrdienstleiter in Schreiber«, sagte er,»das ist vor uns, diesseits von Thunder Bay — und er kann den Canadian hinter uns direkt anfunken. Sie können den Fahrdienstleiter hören, ohne irgendwas zu tun. Wollen Sie senden, drücken Sie auf den Knopf. «Er zeigte drauf und war fort.
Ich setzte den Kopfhörer auf und nahm seinen Platz ein, und bald darauf sagte eine körperlose Stimme in mein Ohr:»Sind Sie dran?«
Ich drückte den Knopf.»Ja.«
«Sagen Sie George, daß ich den Canadian erreicht habe und daß er in Cartier anhält. Hinter ihm kommt noch ein CP-Güterzug, aber ich habe Sudbury rechtzeitig erwischt, und er fährt dort nicht ab. Niemand ist erbaut. Sagen Sie George, er soll sich diesen Wagen schnappen und sehen, daß er Land gewinnt.«
Ich drückte den Knopf.»Gut«, sagte ich.
«Wer sind Sie?«fragte die Stimme.
«Einer von den Kellnern.«
Er sagte:»Hm«, und war still.
Der Große Transkontinentale Erlebnis- und Rennexpreß begann das Tempo zu verlangsamen und kam bald sanft zum Stehen. Fast im gleichen Augenblick war George wieder an seiner Tür.
«Melden Sie dem Fahrdienstleiter, daß wir angehalten haben und zurückfahren«, sagte er, als ich ihm die Nachrichten übermittelt hatte.»Wir sind elf Komma zwei Meilen westlich von Cartier, zwischen Benny und Stralak, das heißt, in unbewohnter Wildnis. Sie bleiben hier, eh?«Und schon war er wieder verschwunden, diesmal in Richtung des Wirbels am hinteren Ende.
Ich gab seine Nachricht an den Fahrdienstleiter durch und fügte hinzu:»Wir setzen jetzt langsam zurück.«
«Melden Sie mir, wenn Sie den Wagen finden.«
«Ja.«
Es war stockdunkel vor den Fenstern, kein Licht in der Wildnis. Hinterher entnahm ich einer Menge erregten Geplappers im Speiseraum, daß George allein draußen vor der Hecktür des Aussichtswagens, am Rand der Leere, gestanden und mit einer starken Taschenlampe das Gleis abgeleuchtet hatte. Hörte, daß er mit einem Walkie-talkie ausgerüstet gewesen war, so daß er den Lokführer anweisen konnte, weiter zu verlangsamen und anzuhalten.
Er fand den Wagen der Lorrimores etwa anderthalb Meilen vor Cartier. Der ganze Zug hielt an, während er vom Aussichtswagen heruntersprang und sich den Streuner ansah. Aus meiner Sicht entstand eine lange Pause, während die Beleuchtung im Dienstabteil zu flackern begann und der Zug zentimeterweise zurücksetzte, bis er wiederum anhielt und einen jähen Ruck tat. Dann fuhren wir langsam vorwärts, wurden schneller, die Beleuchtung hörte auf zu flackern, und bald darauf erschien George mit grimmiger Miene in seinem Abteil, von Kichern keine Spur.
«Was ist los?«sagte ich.
«Nichts«, erwiderte er heftig,»gar nichts ist los. «Er streckte die Hand nach dem Kopfhörer, und ich gab ihn ihm.
Er sprach in das Mikro.»Hier ist George. Wir haben den
Wagen der Lorrimores eins Komma drei Meilen westlich von Cartier aufgegriffen. Die Kupplung war nicht defekt. «Er hörte zu.
«Das sage ich ja. Wer zum Teufel arbeitet da in Cartier, eh? Irgendeiner hat den Wagen abgekuppelt, ihn provisorisch angebunden, so daß er aus dem Bahnhof ins Dunkle gezogen wurde, und ihn dann losgemacht. Die Bremsen waren nicht eingeschaltet. Sagen Sie Cartier, die sollen mal gleich jemand rausschicken, der das Gleis nach einem Seil oder so etwas ab sucht, eh? Das war kein Schlauchriß, die Schläuche waren ausgehängt. Sag ich doch. Der Luftabsperrhahn war geschlossen. Kein verfluchter Unfall, kein verfluchtes technisches Versagen — den Wagen hat jemand absichtlich losgekuppelt. Hätte die kleine Lorrimore das nicht entdeckt, wäre der Canadian reingebrummt. Nein, vielleicht nicht mit hohem Tempo, aber schon bei fünfundzwanzig, dreißig Meilen die Stunde kann der Canadian allerhand Schaden anrichten. Aus dem Privatwagen hätte er Kleinholz gemacht. Die Lokführer hätten draufgehen können, vielleicht wäre auch den Zug entgleist. Die sollen sich gleich mal umsehen, eh?«