«Wir halten in Thunder Bay länger als vorgesehen, da eine Untersuchung wegen des abgekuppelten Wagens der Lorrimores erfolgen soll. Wir bleiben etwa anderthalb Stunden dort und fahren erst weiter, wenn der reguläre Canadian durch ist. Der Canadian bleibt dann die ganze Strecke bis Winnipeg vor uns.«
«Was ist mit dem Lunch?«fragte Mr. Young. Er war zwar ziemlich dünn, hatte aber die Angewohnheit, neben den eigenen
Mahlzeiten noch die Hälfte vom Essen seiner Frau zu verzehren.
«Wir verlassen Thunder Bay etwa um Viertel vor eins«, sagte Nell.»Lunch gibt es dann kurz danach. Und statt des vorgezogenen Dinners ein ganz gemütliches, ehe wir nach Winnipeg kommen. Es wird alles sehr schön klappen. «Sie lächelte, beruhigte, hielt die Gesellschaft zusammen.»Sie werden froh sein, sich in Thunder Bay ein bißchen länger die Beine vertreten zu können, und einige von Ihnen möchten vielleicht ja auch nach ihren Pferden sehen.«
Der Besitzer von Redi-Hot, der die meiste Zeit mit der Lektüre eines Reiseführers beschäftigt zu sein schien, erzählte Mr. und Mrs. Wordmaster, die entsprechend beeindruckt wirkten, daß Thunder Bay, einer der größten Häfen Kanadas, am westlichen Ende des St. Lawrence-Great-Lakes-Schiffahrtsweges lag und eigentlich so heißen müßte, wie es die Einheimischen nannten — The Lakehead, das Ende des Sees. Getreide aus den Prärien wurde von hier aus in die ganze Welt verschifft, sagte er.
«Denken Sie mal an«, sagte Mrs. Wordmaster, die aus England kam.
Ich kehrte dieser geistsprühenden Unterhaltung den Rücken und half Oliver und Cathy die Küche aufräumen, und kurz vor elf hielten wir in dem mitten in Kanada gelegenen Hafen sacht auf einem Gleis, das parallel zu den Bahnhofsgebäuden, aber ein Stück entfernt davon lag.
Sofort rückte ein wartendes Doppelaufgebot von entschlossen blickenden Männern vom Bahnhof her über zwei trennende Gleise vor, der eine Trupp bewehrt mit Pressekameras, der andere mit Notizbüchern. George stieg aus dem Zug, um die Notizbüchler zu empfangen, und die anderen schwärmten aus und fingen an zu knipsen. Einer von den Notizbuchleuten kletterte an Bord, kam in den Speisewagen und bat alle, die am Abend vorher irgendwen oder irgendwas Verdächtiges gesehen hatten, offen darüber zu reden, aber natürlich hatte niemand was gesehen, oder niemand gab es zu, sonst hätte es inzwischen der ganze Zug gewußt.
Der Ermittler sagte, er wolle sein Glück bei den Landschaftsbetrachtern im Aussichtswagen versuchen, wo ihm anscheinend aber auch keins beschieden war, und von dort ging er vermutlich zu den Lorrimores in ihrem nur von Xanthe verlassenen Reich. Dann tauchte er mit einem Troß von Neugierigen wieder im Speisewagen auf und verlangte Xanthe zu sprechen, die sehr blaß und still geworden war.
Er entdeckte sie sofort, da alle in ihre Richtung schauten. Filmer war noch neben ihr; die Reisenden neigten immer dazu, an den Tischen sitzen zu bleiben und sich, wenn die Mahlzeiten abgeräumt waren, weiter zu unterhalten, statt in die Einsamkeit ihrer Abteile zurückzukehren. Fast alle hatten wohl den ganzen Morgen im Speiseraum oder im Aussichtswagen zugebracht.
Mrs. Young drückte Xanthe über den Tisch hinweg ermutigend die Hand, während das Mädchen, halb noch Kind, halb schon junge Frau, sich zitternd durch die bedrohliche Erinnerung kämpfte.
«Nein«, sagte sie, umgeben von stillen, aufmerksamen Zuhörern,»niemand hat vorgeschlagen, daß ich in unseren Wagen gehe… ich wollte nur ins Bad. Und ich hätte… ich… hätte sterben können.«
«Ja. «Der Ermittlungsbeamte, mittleren Alters und scharfen Auges, zeigte Verständnis, blieb aber sehr sachlich und sprach mit einer klaren Stimme, die jetzt, da wir nicht fuhren, ohne weiteres im ganzen Speisewagen zu hören war.»War irgend jemand im Gesellschaftsraum des Aussichtswagens, als Sie dort durchkamen?«
«Eine Menge Leute. «Xanthes Stimme war viel leiser als seine.
«Haben Sie sie gekannt?«
«Nein. Ich meine, sie waren von der Reisegesellschaft.
Fahrgäste eben. «Sie sprach etwas lauter, damit es alle hören konnten.
Einige nickten mit dem Kopf.
«Keiner, von dem Sie jetzt wissen, daß es ein Fremder war?«
«Nein.«
Mrs. Young, hilfsbereit und intelligent außerdem, fragte:
«Wollen Sie sagen, daß es möglich ist, einen Wagen abzukuppeln, während man im Zug ist? Man muß dafür nicht draußen sein?«
Der Ermittler wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu, und alle beugten sich ein wenig vor, um die Antwort zu hören.
«Es ist möglich. Es läßt sich auch machen, während der Zug fährt — deshalb möchten wir wissen, ob sich jemand im Aussichtswagen befand, der Ihnen allen unbekannt war. Das heißt, irgendeinem von Ihnen unbekannt war.«
Ein langes, respektvolles, verstehendes Schweigen trat ein.
Nell sagte:»Ich kenne wohl die meisten unserer Passagiere jetzt vom Sehen. Namentlich habe ich sie auf dem Bahnhof Toronto kennengelernt, als ich ihnen ihre Schlafplätze zuwies. Gestern abend habe ich niemand gesehen, bei dem ich mich gefragt hätte, wer ist das denn?«
«Sie meinen doch nicht«, sagte Mrs. Young und brachte die Sache unfehlbar auf den Punkt,»daß der Wagen von jemandem aus unserer Gruppe abgekuppelt wurde?«
«Wir untersuchen alle Möglichkeiten«, sagte der Ermittler ohne Wichtigtuerei. Er blickte auf die Reihen besorgter Gesichter um sich herum, und seine etwas strenge Miene wurde sanfter.
«Der Privatwagen ist vorsätzlich abgekuppelt worden«, sagte er,»aber wir gehen zunächst davon aus, daß es eine Störaktion von jemand in Cartier war, Ihrem letzten Halt, bevor Miss Lorrimore das Verschwinden des Wagens entdeckte. Dennoch müssen wir fragen, ob der Saboteur im Zug gewesen sein könnte, denn es könnte ja sein, daß jemand von Ihnen etwas Verdächtiges bemerkt hat.«
Ein Mann im Hintergrund sagte:»Ich saß im
Gesellschaftsraum, als Xanthe durchkam, und ich kann Ihnen versichern, daß keiner aus der anderen Richtung gekommen ist. Ich meine, wir wußten doch alle, daß hinter dem Aussichtswagen nur noch der Wagen der Lorrimores ist. Wenn jemand außer den Lorrimores dorthin gegangen und wieder zurückgekommen wäre… nun… das hätten wir bemerkt.«
Wieder allgemeines Kopfnicken. Die Leute bemerkten alles, was mit den Lorrimores zu tun hatte.
Ich verfolgte die Szene von der Küchenseite des Speisewagens aus, wo ich direkt hinter Emil, Cathy und Oliver stand. Ich konnte Xanthes bekümmertes Gesicht deutlich sehen und auch das von Filmer neben ihr. Es kam mir vor, als ob sein Interesse an der Untersuchung nachließ, denn er drehte den säuberlich gebürsteten Kopf weg, um aus dem Fenster zu schauen. Angespannt war er nicht: bei Anspannung versteiften sich seine Nackenmuskeln, das hatte ich am kurzen Tag seines Prozesses aus der Menge heraus beobachtet und seither noch ein paarmal wahrgenommen, so in Nottingham. Wenn Filmer nervös war, sah man es.
Noch während ich ihn beobachtete, wurde sein Nacken steif.
Ich blickte aus einem der Fenster, um zu sehen, wo er hinschaute, aber da schien nichts sonderlich Beachtenswertes zu sein, nur die Rennbahnbesucher, die aus ihren vorderen Wagen strömten, um vom Bahnhof aus Kartengrüße nach Hause zu schreiben.
Filmer drehte sich wieder zu Xanthe und dem Ermittler um und machte eine kleine Geste der Ungeduld, und das schien bei dem Beamten eine Reaktion auszulösen, denn er sagte, wer sich an eine brauchbare Einzelheit, wie geringfügig auch immer, erinnere, möge sich bitte an ihn oder einen seiner Kollegen wenden, aber einstweilen dürften alle gehen.
Man atmete allgemein auf, als die reale Ermittlung zu Ende war.
Zak, dachte ich, würde die Konkurrenz als zu stark empfinden, die Dichtung als enttäuschend gegenüber der Wirklichkeit. Er war in dieser Szene nicht auf getreten- überhaupt keiner der Schauspieler.