Die meisten Fahrgäste zogen los und holten ihre Mäntel, da es draußen nach kaltem Wind aussah, doch Filmer stieg am Aussichtswagenende des Speisewagens aus, durch nichts geschützt als ein betont saloppes Hemd und die edle Tweedjacke. Er blieb unschlüssig stehen, stapfte nicht, wie die ersten anderen jetzt, über die beiden Gleise zwischen unserem Zug und dem Bahnhof, sondern wanderte in einem Winkel nach vorn, in Richtung Lok.
Ich folgte ihm durch die Gänge und hielt mühelos mit seinem Bummeltempo Schritt. Zuerst dachte ich, er wolle nur im Freien zu seinem Abteil spazieren, doch er ging geradewegs an der offenen Tür am Ende seines Schlafwagens vorbei und passierte auch den nächsten. Sicher wollte er zu seinem Pferd. Ich folgte ihm weiter: es war zur Gewohnheit geworden.
Am Ende des dritten Wagens, gleich hinter George Burleys Dienstabteil, hielt er an, weil ihm jemand aus dem Bahnhof entgegenkam: ein hagerer Mann in einer Daunenjacke mit Pelzkragen mit vom Wind zerzaustem grauem Haar.
Sie trafen sich zwischen Georges Fenster und der offenen Tür am Wagenende, und obwohl sie zunächst ganz friedlich miteinander umgingen, spitzte die Begegnung sich rasch zu.
Ich riskierte, von ihnen gesehen zu werden, um ihren Wortwechsel zu verstehen, doch bis ich in Hörweite war, brüllten sie schon so, daß ich durch die Tür lauschen konnte, ohne sie zu sehen oder gesehen zu werden.
Filmer schrie knurrend, mit deutlich kanadischem Einschlag:»Ich sagte, vor Vancouver!«
Der hagere Mann entgegnete erbost:»Sie sagten, vor Winnipeg, und ich hab’s getan, und ich will mein Geld.«
«Huhu«, trällerte Daffodil, in Chinchillas und hochhackigen Stiefeln auf sie zuwippend.»Schauen wir uns Laurentide Ice an?«
Kapitel 10
Der Teufel soll sie holen, dachte ich grimmig. Dreimal verfluchter Bockmist und mehrere andere Wörter ähnlichen Inhalts.
Ich beobachtete durch Georges Fenster, wie Filmer sich große Mühe gab, ihr lächelnd entgegenzugehen und die Aufmerksamkeit von dem hageren Mann abzulenken, der zum Bahnhof zurückkehrte.
Vor Winnipeg, vor Vancouver. Julius Apollo hatte es wieder einmal durcheinandergebracht.»Sie sagten, vor Winnipeg, und ich hab’s getan, und ich will mein Geld. «Heftige Worte, voller Drohung.
Was vor Winnipeg? Was hatte er getan?
Ja, was nur?
Es konnte nicht der Wagen der Lorrimores gewesen sein, dachte ich. Filmer hatte kein Interesse und keine Anspannung gezeigt, war offensichtlich unbeteiligt gewesen. Andererseits konnte er natürlich ruhig bleiben, wenn er erwartet hatte, daß erst vor Vancouver etwas geschah. Er hatte nicht damit gerechnet, daß vor einer der beiden Städte der Wagen der Lorrimores abgekuppelt werden würde, da war ich mir sicher. Statt dessen hatte er seine Bekanntschaft mit Mercer gepflegt, Fäden gesponnen, die abrupt zerrissen wären, hätten die Lorrimores die Gesellschaft verlassen, und das würden sie augenblicklich getan haben, wäre der Canadian in ihr rollendes Zuhause hineingeprescht.
Wenn es sich nicht um den Wagen der Lorrimores drehte, was war dann noch passiert? Was war vor Winnipeg geschehen, das nach Filmers Plan vor Vancouver geschehen sollte? Womit hatte der hagere Mann sich bereits sein Geld verdient?
Da kann man nur raten, dachte ich.
Er konnte jemand bestohlen, einen Stallburschen bestochen, ein Pferd gedopt haben…
Ein Pferd gedopt, das in Winnipeg lief, statt eines, das in Vancouver laufen sollte?
Ihren zornigen Stimmen nach war der Irrtum verheerend gewesen.
Nur Flokati und Upper Gumtree sollten in Winnipeg starten. Laurentide Ice trat in Vancouver gegen Voting Right und Sparrowgrass an… Konnte Filmer so dumm gewesen sein, außer den Städten auch noch die Namen der Pferde zu verwechseln? Nein.
Sackgasse. Und doch… irgend etwas hatte der Hagere getan.
Seufzend sah ich die Youngs am Fenster vorbeigehen, vermutlich unterwegs zum Pferdewaggon. Wenig später folgten die Unwins. Am liebsten hätte ich mich gleich vom Zustand der Pferde überzeugt, doch ich nahm an, wenn mit einem von ihnen etwas nicht stimmte, würde ich es bald genug erfahren.
Ich wünschte, ich hätte ein Foto von dem Hageren schießen können, aber ich war mehr aufs Zuhören erpicht gewesen.
Hatte er etwas mit den Pferden oder um sie herum angestellt, dachte ich, dann mußte er mit uns im Zug gefahren sein. Er war nicht erst in Thunder Bay zu uns gestoßen. War er im Zug gewesen und mit den anderen Rennplatzbesuchern zum Bahnhof gegangen, konnte Filmer ihn durchs Fenster gesehen haben. und sein bloßer Anblick hatte diese Versteifung der Nackenmuskeln bewirkt… und wenn Filmer ihn, wofür auch immer, noch nicht bezahlt hatte, dann würde er wieder in den Zug kommen.
Ich verließ Georges Büro und ging zwei Türen weiter zu meinem Abteil, um meine Fernglas-Telekamera aus Tommys Reisetasche hervorzukramen, und setzte mich und wartete am
Fenster auf die Rückkehr des Hageren.
Nicht er, sondern Filmer und Daffodil erschienen nach einer Weile in meinem Blickfeld; sie steuerten schräg auf die Bahnhofsgebäude zu, und schon bald danach kam unter viel Gebimmel und Pfeifsignalen eine riesige knallgelbe Diesellok ächzend und knirschend an meinem Fenster vorbei, die Lok des Canadian, der mit einem Schwanz von langen silbernen Wagen aus gewelltem Aluminium das Gleis neben dem Rennexpreß hinaufrollte und genau längsseits anhielt.
Statt eines hübschen freien Kamerablicks auf den Bahnhof hatte ich jetzt das schwarze, nichtssagende Abteilfenster von jemand anders vor mir.
Verdammt und zugenäht, dachte ich. Ich stopfte das Fernglas wieder in die Reisetasche und schlenderte ohne jeden vernünftigen Plan zurück in Richtung Speisewagen. Wenn ich so weitermachte, würden sich die schlimmsten Befürchtungen von Bill Baudelaire, dem Brigadier und vor allem von John Millington bewahrheiten.»Ich sagte euch ja, wir hätten einen Expolizisten schicken sollen…«Ich konnte seine Stimme direkt hören.
Als ich Julius Apollos Tür erreichte, fiel mir ein, daß der Canadian die ganzen fünfundzwanzig Minuten seines fahrplanmäßigen Aufenthalts dort stehenbleiben würde, wo er stand. Fünfundzwanzig Minuten — sagen wir, noch zweiundzwanzig — würde Filmer drüben im Bahnhof bleiben. Er würde nicht vorn oder hinten um den langgezogenen Canadian herumlaufen, um in sein Abteil zu kommen.
Oder?
Nein, würde er nicht. Warum sollte er? Er war doch gerade erst rübergegangen. Ich hatte zwanzig Minuten Zeit zu sehen, was sich mit seinen Kombinationsschlössern tun ließ.
Bei längerem Nachdenken hätte ich vielleicht nicht den Nerv gehabt, aber ich stieß einfach seine Tür auf, sah mich im Gang nach Beobachtern um (keine), trat in das Abteil und sperrte mich ein.
Der schwarze Aktenkoffer war noch hinten auf dem Boden der Nische, unter den Anzügen. Ich zog ihn heraus, hockte mich auf einen der Sitze und nahm mir mit einem Gefühl von Unwirklichkeit das rechte Schloß vor. Falls jemand kommen sollte, dachte ich verwirrt… wenn beispielsweise der Schlafwagensteward kam… wie konnte ich mich dann bloß herausreden?
Überhaupt nicht.
Die Kombinationsringe rechts standen auf eins-drei-sieben. Ich ging methodisch von dort aus weiter, eins-drei-acht, einsdrei-neun, eins-vier-null, probierte das Schnappschloß nach jeder Zahlenänderung.
Mein Herz hämmerte, und ich fühlte mich außer Atem. Ich war an geringe Sicherheit bei meiner Arbeit gewöhnt und von früher her an viele körperliche Gefahren, jedoch nicht an diese Art Risiko.
Eins-vier-eins, eins-vier-zwei, eins-vier-drei. Ich probierte das Schloß wieder und wieder und sah auf meine Uhr. Erst zwei Minuten waren vergangen. Mir kam es vor wie ein ganzes Leben. Eins-vier-vier, eins-vier-fünf… Es gab tausend mögliche Kombinationen… eins-vier-sechs, eins-vier-sieben… in zwanzig Minuten konnte ich vielleicht hundertfünfzig Zahlen durchprobieren… Ich hatte die Prozedur schon mal auf mich genommen, aber nicht unter Druck, als Tante Viv eine Kombination an einem neuen Koffer eingestellt und sie dann vergessen hatte… eins-vieracht, eins-vier-neun… mein Gesicht war verschwitzt, meine Finger rutschten vor Hast auf den winzigen Ringen. eins-fünfnull, eins-fünf-eins.