Klickend schnappte der Verschluß auf.
Es war unglaublich. Kaum zu fassen. Ich hatte eben erst angefangen. Jetzt brauchte ich nur noch mal so ein Glück.
Die linke Kombination stand auf sieben-drei-acht. Ich probierte das Schloß. Nichts.
In der Hoffnung, daß vielleicht beide Schlösser auf die gleiche Losung hörten, stellte ich die Ringe auf eins-fünf-eins und versuchte es. Fehlanzeige. Kein so leichtes Spiel. Ich versuchte die Umkehrung fünf-eins-fünf. Ich probierte vergleichbare Zahlen, eins-zwo-eins, zwo-eins-zwo, eins-drei-eins, drei-einsdrei, eins-vier-eins, vier-eins-vier… sechs… sieben… acht… neun… drei Nullen.
Nichts.
Mein Mut verließ mich. Ich drehte die Ringe links auf siebendrei-acht zurück und stellte bei wieder eingeklinktem Schloß die rechte Kombination auf eins-drei-sieben. Ich wischte die Schlösser mit meinem Hemdsärmel ein wenig ab, stellte die Tasche dann genauso hin, wie ich sie vorgefunden hatte, und schleppte meine elendig zitternde Person weiter zum Speisewagen, bereute aber, noch ehe ich dort ankam, schon wieder, daß ich nicht bis zur Abfahrt des Canadian am Ball geblieben war: Ich hatte eine der besten und vielleicht meine einzige Chance vertan, einen Blick auf das zu werfen, was Filmer da im Zug mitführte.
Vielleicht, wenn ich eins-eins-fünf versucht hätte oder fünffünf-eins oder fünf-fünf-fünf.
Nell saß allein an einem Tisch im Speisewagen, beschäftigt mit ihren endlosen Listen (die normalerweise auf das Klemmbrett geklemmt waren), und ich setzte mich ihr gegenüber und schämte mich.
Sie blickte auf.»Tag«, sagte sie.
«Hallo.«
Sie betrachtete mich.»Sie sehen erhitzt aus. Gelaufen?«
Ich hatte still und intensiv vor mich hin gesühnt. Ich brauchte nicht mehr zu beichten.
«So ungefähr«, sagte ich.»Wie geht’s?«
Sie warf einen empörten Seitenblick auf den Canadian.
«Ich wollte gerade zum Bahnhof rüber, als der da eingetrudelt ist.«
Der da, als hätte er den Wink verstanden, kam sacht ins Rollen, und innerhalb von zwanzig Sekunden hatten wir wieder freie Sicht auf das Bahnhofsgebäude. Die meisten Expreßreisenden, einschließlich Filmer und Daffodil, setzten sofort über die Geleise, um einzusteigen. Unter denen, die auf die Rennbahnbesucherwagen zustrebten, war der Hagere.
Gott im Himmel, dachte ich. Ich hatte ihn vergessen. Ich hatte vergessen, daß ich ihn fotografieren wollte. Aus den Augen, aus dem Sinn.
«Was ist los?«fragte Nell, mein Gesicht beobachtend.
«Ich habe mir gerade eine Vier minus eingehandelt. Eine doppelte Vier minus.«
«Wahrscheinlich erwarten Sie zuviel von sich«, sagte sie nüchtern.»Niemand ist vollkommen.«
«Es gibt verschiedene Grade der Vollkommenheit.«
«Wie groß ist denn die Katastrophe?«
Ich dachte ruhiger darüber nach. Der Hagere war im Zug, und vielleicht bekam ich doch noch eine Gelegenheit. Ich konnte ein Schloß von Filmers Aktentasche öffnen, und wenn ich genug Zeit hatte, schaffte ich vielleicht auch das andere. Berichtigung: Wenn ich genug Mut hatte, schaffte ich vielleicht auch das andere.
«Okay«, meinte ich,»sagen wir Drei minus, könnte besser sein. Trotzdem nicht gut. «Millington hätte es besser gemacht.
Zak und Emil erschienen in diesem Moment gemeinsam, Emil, um die Tische für den Lunch zu decken, Zak, um theatralisch genervt anzufragen, ob die Schauspieler die nächste Szene vor dem Lunch spielen sollten, wie ursprünglich geplant, oder wann sonst?
Nell sah auf die Uhr und überlegte kurz.»Könnten Sie es nicht auf die Cocktailstunde heute abend verschieben?«
«Dafür war die nächste Szene vorgesehen«, wandte er ein.
«Tja… und wenn Sie beide zusammenlegen?«
Er stimmte recht verdrießlich zu, sagte, dann müßten sie jetzt proben, und ging. Nell lächelte süß hinter seinem entschwindenden Rücken her und fragte mich, ob mir schon mal aufgefallen sei, wie wichtig Schauspieler alles nähmen. Alles außer der realen Welt natürlich.
«Katze«, sagte ich.
«Aber ich habe so feine, gefühlvolle Krallen.«
Oliver und Cathy kamen und fingen gemeinsam mit Emil an, Tischtücher und Gedecke aufzulegen. Ich stand auf und half ihnen, und Nell schaute amüsiert zu, wie ich rosa Servietten zu Seerosen faltete.»Sieh an«, hänselte sie,»verborgene Talente«, und ich erwiderte:»Sie sollten mich erst beim Spülen sehen«-kindisch-oberflächliche Bemerkungen zu etwas, von dem wir beide ahnten, daß es plötzlich ernst werden könnte. Vorerst war die schimmernde Oberfläche harmlos und lustig, und so würde es auch bleiben, bis wir zu anderem bereit waren.
Wie üblich kamen die Fahrgäste schon früh in den Speisewagen, und ich verschmolz in meiner Uniform mit der Kulisse und wich Nells Blicken aus.
Die Fahrgäste hatten ihren Aufenthalt auf dem Bahnhof offenbar nicht allzusehr genossen. Die Presseleute waren wie ein Bienenschwarm über sie hergefallen, hatten Xanthe wieder an den Rand der Hysterie getrieben und Mercer gefragt, ob es nicht unklug sei, mit einem Privatwagen seinen Status, seinen Reichtum zur Schau zu stellen; ob er sich dadurch, daß er ihn an den Zug angehängt hatte, nicht nur selbst in Schwierigkeiten gebracht habe? Unterstellungen, die große Empörung weckten.
Alle wußten doch, daß er aus Bürgersinn mitreiste, im Interesse des kanadischen Rennsports.
Die Lorrimores trafen alle vier zusammen ein, begrüßt von mitfühlendem Gemurmel, doch die beiden jungen trennten sich sogleich von ihren Eltern und voneinander, und alle strebten ihren jeweiligen Häfen zu: Die Eltern setzten sich unaufgefordert zu Filmer und Daffodil, Xanthe lief mitleidheischend zu Mrs. Young, und Sheridan schnappte sich Nell, die inzwischen aufgestanden war; er brauche ihre Gesellschaft, sagte er, sie sei das einzige vernünftige menschliche Wesen im ganzen verdammten Zug.
Nell wußte zwar nicht genau, was sein Kompliment wert war, setzte sich ihm aber dennoch erst mal gegenüber. Darauf zu achten, daß Sheridan auf Kurs oder auch nur halbwegs auf Kurs blieb, fiel eindeutig unter Krisensteuerung.
Sheridan besaß das Äußere, das zu Julius’ zweitem Namen Apollo paßte: Er war groß, gutaussehend, beinah blond, ein Kind der Sonne. Die Kälte, die Überheblichkeit, der Mangel an Normalverstand und Selbstbeherrschung, sie waren die tragische Schattenseite. Ein Psychopath im kleinen, dachte ich, und so klein vielleicht auch wieder nicht, wenn Xanthe fand, er gehöre ins Gefängnis.
Die australischen Unwins, an einem Tisch mit den gegnerischen Besitzern Flokatis, waren besorgt über eine gewisse Mattigkeit bei Upper Gumtree, die sie darauf zurückführten, daß ihr Pferd im Zug eine beschränkte Kost aus Kraftfutter und hochwertigem Heu erhalten hatte, und die Flokati-Leute meinten vergnügt, bei einer so langen Zeit ohne Bewegung sei gutes Heu am besten. Heu sei beruhigend.»Man will ja nicht, daß sie die Wände hochklettern«, sagte Mr. Flokati. Upper Gumtree habe ausgesehen, als ob er schliefe, bemerkte Mrs. Unwin mißbilligend. Die Flokati-Leute strahlten übers ganze mitfühlende Gesicht. Wenn Upper Gumtree sich als schlapp erwies, standen die Chancen für Flokati um so besser.
Anscheinend hatten alle Besitzer die Gelegenheit genutzt, sich ihre Pferde anzusehen, während der Zug stand, und so genau ich auch hinhörte, niemand sonst meldete Kummer.
Upper Gumtree, so schien mir, könnte sich morgen schon wunderbar erholen, wenn er Hafer, frische Luft und Bewegung bekam. Bis zu seinem Rennen waren es noch immer mehr als achtundvierzig Stunden. Hatte der Hagere Upper Gumtree tatsächlich einen Müdmacher verabreicht, würde die Wirkung sich lange vorher verlieren.