Bei genauerer Überlegung hielt ich es für immer weniger wahrscheinlich, daß er etwas dergleichen getan hatte: Zunächst mal hätte er dafür die Drachenlady überwinden müssen. Allerdings verließ die ihren Posten wohl auch manchmal. zum Essen und Schlafen.
«Ich habe gefragt«, sprach mich Daffodil vernehmlich an,»ob Sie mir ein frisches Messer bringen könnten? Meins ist mir auf den Boden gefallen.«
«Natürlich, Madam. «Abrupt kehrte ich zur vorliegenden Sache zurück, begriff erschrocken, daß sie ihre Frage schon einmal gestellt hatte und holte ihr schleunigst das Messer. Sie nickte bloß, wieder ganz auf Filmer konzentriert, und der hatte, wie ich mächtig erleichtert sah, von dem kleinen Zwischenfall keine Notiz genommen. Aber wie konnte ich nur, dachte ich zerknirscht — wie konnte ich aufhören, mich zu konzentrieren, wenn ich so dicht bei ihm war? Vor einem Tag noch hatte diese Nähe meinen Puls rasen lassen.
Der Zug nahm unmerklich seine Fahrt auf und rollte wieder durch die unbewohnte Weite aus Felsen, Nadelbäumen und Seen, die sich bis ans Ende der Welt hinzuziehen schien. Wir servierten Lunch und Kaffee ab und räumten auf, und sobald ich es mit Anstand tun konnte, verließ ich die Küche und ging durch den Zug nach vorn.
George, nach dem ich zuerst schaute, war in seinem
Dienstabteil, aß ein dickes, knackiges Rindfleischsandwich und trank Diät-Cola.
«Wie lief es denn«, fragte ich,»mit Thunder Bay?«
Er zog die Brauen zusammen, aber nur halbherzig.»Die haben nichts rausgefunden, was ich ihnen nicht schon gesagt hatte. Es war nichts zu sehen. Sie nehmen jetzt an, daß derjenige, der den Privatwagen abgekuppelt hat, mit drin war, als der Zug von Cartier abfuhr.«
«In dem Privatwagen?«sagte ich erstaunt.
«Richtig. Die Schläuche könnten auf dem Bahnhof ausgehängt worden sein, eh? Dann verläßt der Zug Cartier mit dem Saboteur im Wagen der Lorrimores. Dann — noch keine Meile hinter Cartier, eh? — zieht unser Saboteur den Bolzen raus, der die Kupplung löst. Der Privatwagen rollt noch ein Stück, bleibt stehen, und er steigt aus und geht zu Fuß nach Cartier zurück.«
«Aber warum sollte das jemand tun?«
«Werd erwachsen, Junge. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die Unruhe stiften, weil sie sich dadurch wichtig vorkommen. Sie bringen nichts im Leben, eh? Also stecken sie Sachen in Brand. und zerschlagen Sachen. pinseln Sprüche an die Wand… drücken irgendwo ihren Stempel drauf, eh? Und lassen Züge verunglücken. Packen Betonplatten auf die Schienen. Ich hab’s gesehen. Macht über andere, darum dreht es sich. Ein Groll auf die Lorrimores höchstwahrscheinlich. Macht über sie, über ihr Eigentum. Das glauben auch die Ermittler.«
«Hm«, sagte ich.»Wenn das der Fall ist, wird der Saboteur wohl nicht zurück nach Cartier gegangen sein, sondern zu irgendeinem Aussichtspunkt, um den Zusammenstoß mitzuerleben.«
George sah verblüfft drein.»Tja… das wäre möglich.«
«Brandstifter helfen oft das Feuer löschen, das sie gelegt haben.«
«Sie meinen, er würde da gewartet haben. um beim Räumen mitzuhelfen? Sogar beim Bergen der Verletzten?«
«Klar«, sagte ich.»Reine, berauschende Macht, zu wissen, daß man eine solche Szene verursacht hat.«
«Ich hab da niemand gesehen«, meinte er nachdenklich,»als wir zurück zu dem Wagen sind. Ich hab ja geleuchtet… da ist keiner rumgelaufen, eh? oder so was.«
«Was werden die Ermittler denn jetzt tun?«fragte ich.
Seine Augen bekamen Fältchen, und das vertraute leise Lachen klang auf.»Lange Berichte schreiben, eh? Uns empfehlen, keine Privatwagen mehr zuzulassen. Mir vorwerfen, daß ich es nicht verhindert habe, schätze ich.«
Der Gedanke schien ihn nicht zu kümmern. Auf seinen breiten Schultern konnte er viel tragen.
Ich verließ ihn voll Anerkennung und ging weiter in den mittleren Speisewagen, wo sämtliche Schauspieler vor Kaffeetassen saßen und über maschinegeschriebenen Bühnenanweisungen brüteten, leise vor sich hin murmelten und manchmal auch laut etwas ausriefen.
Zak hob den Blick ungefähr in meine Richtung, doch es wäre taktlos gewesen, den Kreis seiner Gedanken zu stören, also lief ich weiter vor, durchquerte den Dayniter und die Schlafwagen und kam zum vorderen Aussichtswagen. Überall waren eine Menge Leute, doch niemand sah mich mehr als flüchtig an.
Schließlich klopfte ich an die Tür des Pferdewaggons und wurde nach einer Musterung und Formalitäten, die einem Land hinter dem Eisernen Vorhang Ehre gemacht hätten, wieder von Miss Brown in das Allerheiligste vorgelassen.
Als ich neuerlich» Tommy Titmouse «auf ihre Liste krakelte, sah ich mit Interesse, wie lang diese geworden war, und mir fiel auf, daß selbst Mercer hatte unterschreiben müssen. Ich fragte die Drachenlady, ob irgend jemand, der kein Besitzer oder
Pfleger war, hereingekommen sei, und sie warf den Kopf zurück wie ein schlanker Truthahn und sagte mir, sie habe jeden Besucher gewissenhaft auf ihrer Liste der verbrieften Besitzer abgehakt und nur sie seien eingelassen worden.
«Aber Sie kennen sie doch nicht alle vom Sehen«, sagte ich.
«Was soll das heißen?«fragte sie scharf.
«Angenommen, es kommt zum Beispiel jemand und sagt, er ist Mr. Unwin, dann würden Sie nachsehen, ob sein Name auf der Liste steht, und ihn reinlassen?«
«Ja, natürlich.«
«Und wenn er nun nicht Mr. Unwin ist, obwohl er gesagt hat, er sei es?«
«Sie sind doch nur spitzfindig«, versetzte sie ärgerlich.»Ich kann den Besitzern nicht den Eintritt verwehren. Sie haben das Besuchsrecht erhalten, aber sie brauchen sich nicht auszuweisen. Auch ihre Ehegatten nicht.«
Ich sah ihre Besucherliste durch. Filmer erschien zweimal darauf, Daffodil einmal. Filmers Unterschrift war groß und protzig, Aufmerksamkeit heischend. Niemand hatte Filmer auf andere Weise geschrieben; zumindest hatte der Hagere sich wohl nicht Einlaß verschafft, indem er Filmers Namen benutzte. Was nicht hieß, daß er nicht sonst einen Namen angegeben hatte.
Ich gab Leslie Brown die Liste zurück, wanderte von ihren Adleraugen beobachtet umher und sah mir die Pferde an. Sie schwankten friedlich mit der Fahrtbewegung, standen schräg in den Boxen, betrachteten mich ohne Neugierde, scheinbar zufrieden. Ich konnte nicht erkennen, daß Upper Gumtree schläfriger ausgesehen hätte als die anderen: Sein Blick war klar, und er stellte die Ohren auf, als ich mich ihm näherte.
Sämtliche Pfleger bis auf einen, der auf irgendwelchen Heuballen schlief, hatten es vorgezogen, nicht bei ihren
Schützlingen zu sitzen, und ich nahm an, das lag an Leslie Browns furchteinflößender Präsenz. Da Stallburschen im großen ganzen sehr an ihren Pferden hingen, hätte ich erwartet, daß tagsüber mehr von ihnen auf den Heuballen sitzen würden.
«Was geschieht nachts im Zug?«fragte ich Leslie Brown.»Wer bewacht dann die Pferde?«
«Ich«, sagte sie bissig.»Man hat mir ein Einbettabteil gegeben oder so was, aber ich nehme diese Sache ernst. Ich habe letzte Nacht hier geschlafen, und nach Winnipeg werde ich es wieder tun, und auch nach Lake Louise. Ich verstehe nicht, warum Sie so Angst haben, es könnte sich jemand an mir vorbei stehlen. «Sie sah mich böse an, meine Verdächtigungen gefielen ihr nicht.
«Wenn ich zur Toilette gehe, lasse ich einen Pfleger hier drin und schließe den Pferdewaggon hinter mir ab. Ich bin niemals länger als ein paar Minuten fort. Ich bestehe darauf, daß immer einer der Pfleger hier ist. Mir ist völlig klar, wie nötig jemand anders zuständig. Ich trage keine Verantwortung für das, was dort mit den Pferden geschieht. «Womit sie offensichtlich sagen wollte, man könne sich nicht darauf verlassen, daß irgendwer sonst so gründlich war wie sie.
«Haben Sie jemals Spaß, Miss Brown?«fragte ich.
«Wie soll ich das verstehen?«sagte sie und hob erstaunt die Augenbrauen.»Das hier macht doch Spaß. «Sie winkte mit der Hand allgemein durch den Pferdewaggon.»Ich amüsiere mich großartig. «Und sie war nicht ironisch — sie meinte es wirklich ernst.