Die Upper-Gumtree-Unwins und das Flokati-Ehepaar schienen durch gleiche Interessen verbunden zu sein; ob die spontane Freundschaft nach ihrem gemeinsamen Rennen welkte, würde man am Mittwoch abend sehen.
Die meisten anderen Passagiere kannte ich nur vage, mehr dem Gesicht als dem Namen nach. Ihre Namen hatte ich mir lediglich gemerkt, soweit sie Pferde im Pferdewaggon stehen hatten oder mit Filmer in Kontakt getreten waren, und das galt nur für ungefähr die Hälfte. Alle waren eigentlich angenehm, auch wenn einer der Männer fast alles zum Nachwärmen in die Küche zurückgehen ließ und eine Frau das vorzügliche Essen mit schnickenden Gabelbewegungen auf ihrem Teller hin und her stieß und streng bemerkte, den Frommen sollte schlichte Kost genügen. Was sie in der Rennsportrunde zu suchen hatte, fand ich nie heraus.
Zaks lange Szene begann mit eindrucksvollen Paukenschlägen, sobald alle im Speisewagen mit einem Drink versorgt waren.
Ein hochgewachsener Mann in der traditionellen scharlachroten Uniform der Royal Canadian Mounted Police stiefelte in den Speiseraum und sagte mit Schweigen gebietender Stimme, er habe uns etwas Wichtiges mitzuteilen. Er sei in Kenora zugestiegen, sagte er, weil man die Leiche eines mit dem Zug gereisten Pflegers namens Ricky unweit Thunder Bay neben den Eisenbahnschienen gefunden habe. Er habe sein Rennexpreß-T-Shirt getragen und einen Ausweis in der Tasche gehabt.
Die Fahrgäste schauten entsetzt drein. Die imposante Erscheinung des Mounties beherrschte den ganzen Raum, und er klang durchaus authentisch. Er habe gehört, sagte er, daß der Pfleger schon in Toronto einmal angegriffen worden sei, als er die Entführung eines Pferdes vereitelte, daß er aber trotzdem auf der Mitfahrt bestanden habe, nachdem er von einer Miss Richmond verbunden worden sei. Traf das zu?
Es treffe zu, sagte Nell ernst.
Bei den Besitzern der mitfahrenden Pferde setzte der Unglauben am schnellsten ein. Mercer Lorrimore genoß den Spaß. Wenn sie ermittelten, liefen Mounties heutzutage nicht in Paradeuniform herum.
«Aber wir sind in Manitoba«, hörte man Mercer in einer Gesprächspause sagen,»da liegen sie richtig. Wir haben die Grenze von Ontario eben überschritten. Das Territorium der Mounted Police fängt genau hier an.«
«Sie scheinen da ja gut Bescheid zu wissen«, sagte unser Mountie.
«Was wissen Sie denn über diesen toten Pfleger?«
«Nichts«, sagte Mercer vergnügt.
Ich blickte kurz zu Filmer. Sein Gesicht war hart, sein Nacken steif, seine Augen verengt, und sofort dachte ich an Paul Shacklebury, den toten Burschen im Straßengraben. Stallburschen in England… Pfleger in Kanada: der gleiche Job. Was hatte Paul Shacklebury über Filmer gewußt… die gleiche alte, unbeantwortbare Frage.
«Und warum wurde er umgebracht?«fragte der Mountie.»Was hat er gewußt?«
Ich riskierte einen Blick, schaute weg, Filmers Mund war ein schmaler Strich. Die Antwort auf die Frage mußte in diesem Moment in seinem straff gehaltenen Kopf sein, und für mich war sie so unerreichbar wie Alpha Centauri.
Zak äußerte die Ansicht, daß Ricky einen der Entführer erkannt hatte. Vielleicht, sagte er, waren die Entführer im Zug mitgekommen. Vielleicht waren sie unter den Rennbahnbesuchern, harrten auf eine neue Gelegenheit, ihre
Beute abzuschleppen.
Filmers Nackenmuskulatur entspannte sich allmählich, und ich begriff, daß er einen Augenblick geargwöhnt haben mußte, die Szene sei speziell auf ihn gemünzt. Vielleicht verbrachte er einen Großteil seiner Zeit damit, auf die harmlosesten Bemerkungen so zu reagieren.
Mavis und Walter Bricknell verlangten, der Mountie solle dafür sorgen, daß ihrem kostbaren Pferd nichts passierte.
Der Mountie ging darüber hinweg. Er übernehme jetzt die Untersuchung des Todes von Angelica Standish, sagte er. Zwei Tote in Verbindung mit demselben Zug könnten kein Zufall sein. Welche Verbindung bestand zwischen Angelica und Ricky?
Zak sagte, er leite die Ermittlungen im Fall Angelica.
Jetzt nicht mehr, gab der Mountie zurück. Wir befänden uns in der Provinz Manitoba, nicht mehr in Ontario. Dies sei ausschließlich sein Bezirk.
Zaks geplante Untersuchungsszene zum Mord an Angelica war von der Realität des Lorrimore-Wagens in den Hintergrund gedrängt worden und dann dem langen Aufenthalt in Thunder Bay zum Opfer gefallen. Durch die Weitergabe der Befragung an den Mountie wurde die Lücke elegant überbrückt, und der Mountie erklärte uns, der Grund, weshalb Steve, Angelicas Manager und Liebhaber, sich nicht auf dem Bahnhof Toronto eingefunden habe, sei der, daß Steve ebenfalls tot sei; man habe ihn in seiner Wohnung durch mehrere gegen den Kopf geführte Schläge mit einem Holzhammer niedergemacht.
Das Publikum nahm die Kunde von noch weiterem Blutvergießen mit aufgerissenen Augen auf. Offenbar, fuhr der Mountie fort, habe Steve zum Zeitpunkt seiner Ermordung schlafend im Bett gelegen, und die Polizei von Ontario wolle Angelica als Tatverdächtige befragen.
«Aber sie ist doch tot!«rief Mavis Bricknell.
Nach einer Pause sagte Donna, sie und Angelica hätten sich zwischen Toronto und Sudbury an die zwei Stunden lang unterhalten, und sie sei überzeugt, daß Angelica Steve nicht ermordet haben könne, sie sei ohne ihn verloren gewesen.
Mag sein, sagte der Mountie, aber wenn sie so durcheinander war, wieso war sie dann überhaupt in den Zug gestiegen? Wollte sie nicht am Ende vor der Erkenntnis fliehen, daß sie ihren Liebhaber getötet hatte?
Giles-der-Mörder fragte ruhig, ob nach der Tötung Angelicas eine Mordwaffe gefunden worden sei.
Und, fragte Pierre, hätte Angelicas Mörder nicht blutüberströmt sein müssen? Der ganze Toilettenraum war doch vollgespritzt.
Zak und der Mountie wechselten Blicke. Der Mountie sagte widerwillig, man habe auf dem Streckenabschnitt, in dem Angelica erschlagen worden sei, eine zusammengerollte, blutige Plastikplane auf dem Bahnkörper gefunden, die vermutlich als Regenmantel gedient habe und jetzt auf Fingerspuren und die zugehörige Blutgruppe untersucht werde.
Donna fragte, ob nicht sowohl Steve wie Angelica mit einem Holzhammer ermordet worden sein könnten. Das bewiese dann doch Angelicas Unschuld, oder? Sie könne nicht glauben, daß jemand so Nettes wie Angelica in einen Versicherungsbetrug verwickelt gewesen sei.
Bitte? Was für ein Versicherungsbetrug?
Ich blickte unwillkürlich zu Daffodil, doch wenn sie mit den Wimpern gezuckt hatte, war es mir entgangen.
Donna sagte verwirrt, sie wisse nicht, was für ein Versicherungsbetrug. Angelica habe nur davon gesprochen, daß Steve in einen Versicherungsbetrug verwickelt sei und daß sie befürchte, er habe deswegen den Zug verpaßt. Donna hatte dem nicht weiter nachgehen wollen.
Sheridan Lorrimore sagte laut, Angelica sei ein Miststück gewesen, und grapschte mit einem Satz nach der Pistole, die aus dem Hüftholster des Mountie ragte. Der Mountie spürte den Ruck, fuhr herum und packte Sheridan beim Handgelenk. Es war eine geschickte Bewegung nach der Art John Millingtons an einem guten Tag, die blitzschnelle Reaktion verriet, mehr wie ein Sportler denn wie ein Schauspieler.
«Das ist meine Waffe, Sir«, sagte er, stieß Sheridans Handgelenk fünfzehn Zentimeter zur Seite und ließ es los.»Und alle mal herhören, sie ist nicht geladen.«
Es gab einhelliges Gelächter. Sheridan, allgemein unbeliebt, hatte sich durch sein rüdes Benehmen wieder einmal zum Narren gemacht und blickte wie vorauszusehen wütend drein. Seine Mutter, fiel mir auf, hatte sich abgewandt. Mercer schüttelte den Kopf.
Der Mountie sagte ungerührt, er werde die Nachforschungen über Angelicas und Rickys Tod energisch vorantreiben und könne vielleicht schon in Winnipeg Neues berichten. Er und Zak gingen zusammen fort, und Donna pilgerte eine Weile von Tisch zu Tisch: Die arme Angelica, sagte sie immer wieder, sei wirklich nett gewesen, keine Mörderin, und sie, Donna, rege sich über die Unterstellung fürchterlich auf. Sogar ein paar echte Tränen rang sie sich ab. Sie war zweifellos eine gute Schauspielerin.