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Es waren viele halbvertraute Gesichter unter den Zuschauern — die Rennbahnenthusiasten aus dem Zug. Aber der einzige von ihnen, der mich interessierte, war entweder ungemein schwer zu fassen oder nicht da. Die mir bekannten Techniken zum Auffinden von Leuten nützten alle nichts: Der Mann mit dem hageren Gesicht, den grauen Haaren und dem pelzbesetzten Parka war unsichtbarer als ich selbst.

Dafür sah ich Nell.

In ihrem schlichten blauen Kostüm kam sie aus dem

Vereinshaus, begleitet von zwei Besitzern, die offenbar unten bei den Pferden sein wollten. Ich bummelte hinter den dreien her, beobachtete den Aufgalopp zum dritten Rennen und war nicht weit weg von ihnen, als sie direkt an die Rails gingen, um sich den Lauf aus allernächster Nähe anzusehen. Als es vorbei war, wandten sich die Besitzer der Tribüne zu, unterhielten sich angeregt über das Ergebnis, und ich baute mich so auf, daß Nell mich mit etwas Glück sehen würde, wobei ich kurz das Rennprogramm schwenkte.

Sie bemerkte das Programmheft, bemerkte mich mit geweiteten Augen, und bald darauf löste sie sich von den Besitzern, blieb stehen und wartete. Als ich ohne Hast bei ihr anlangte, grinste sie mich von der Seite an.

«Sind Sie nicht so ein Kellner aus dem Zug?«sagte sie.

«Na klar.«

«Haben Sie was zum Schlafen gefunden?«

«Ja, danke. Wie ist das Westin?«

Sie wohnte bei den Besitzern; ihr Hirte, ihr Wegbereiter, ihr Informationsstand.

«Das Hotel ist schon gut — aber irgend jemand sollte diesem reichen… diesem arroganten… diesem unausstehlichen Sheridan den Hals umdrehen. «Empörung bebte in ihrer Stimme, als sie plötzlich ein offenkundig aufgestautes und zurückgedrängtes Gefühl herausließ.»Er ist unerträglich. Er verdirbt anderen den Spaß. Sie haben alle ein Vermögen bezahlt, um dabeizusein, und sie dürfen verlangen, daß man sie in Frieden läßt.«

«Ist was passiert?«fragte ich.

«Ja, beim Frühstück. «Die Erinnerung mißfiel ihr.»Zak legte die nächste Krimiszene ein, und Sheridan hat ihn dreimal niedergebrüllt. Ich bin rüber zu Sheridan, um ihn zu bitten, er solle still sein, da packt er mich am Handgelenk und versucht mich auf seinen Schoß zu ziehen, und ich verliere das Gleichgewicht und schlage schwer auf dem Tisch auf, an dem er sitzt, und irgendwie bleib ich dabei am Tischtuch hängen und reiße es mit, und alles, was draufliegt, landet auf dem Boden. Sie können sich den Zirkus vorstellen. Ich lag auf den Knien, und alles war voll Orangensaft und Essen, voll Scherben und Kaffee, und Sheridan meinte laut, ja was wäre ich denn auch so ungeschickt.«

«Und ich kann mir vorstellen«, sagte ich, da ich jetzt eher Resignation als Empörung in ihrem Gesicht sah,»daß Bambi Lorrimore keine Notiz davon genommen hat, daß Mercer herbeigeeilt kam, um Ihnen aufzuhelfen und um Entschuldigung zu bitten, und daß Mrs. Young gefragt hat, ob Sie sich weh getan haben.«

Sie schaute mich verblüfft an.»Sie waren dort!«

«Nein. Es ist bloß typisch.«

«Nun… genau das ist passiert. Ein Kellner kam, um die Schweinerei wegzumachen, und während er dakniete, sagte Sheridan laut, der Kellner hätte höhnisch über ihn gegrinst und er würde ihn rausschmeißen lassen. «Sie hielt inne.»Und wahrscheinlich können Sie mir wieder sagen, was als nächstes passiert ist?«

Sie wollte nur hänseln, aber ich antwortete:»Vermutlich hat Mercer dem Kellner versichert, daß er nicht rausfliegt, und ihn beiseitegenommen und ihm zwanzig Dollar in die Hand gedrückt.«

Ihr Mund klappte auf.»Sie waren doch da.«

Ich schüttelte den Kopf.»Er gab mir zwanzig Dollar, als Sheridan mich neulich abends angepöbelt hat.«

«Aber das ist doch furchtbar.«

«Mercer ist ein netter Mensch, der in einem ewigen Dilemma steckt. Bambi hat sich dagegen verschlossen. Xanthe sucht anderswo Trost.«

Nell dachte darüber nach und brachte eine Ansicht zum Ausdruck, die so ziemlich der meinen entsprach.

«Eines Tages wird Ekel Sheridan was machen, was sein Vater nicht bezahlen kann.«

«Er ist ein sehr reicher Mann«, sagte ich.

Kapitel 12

«Es hat nichts mit seinem Geburtstag zu tun, auch nicht mit seinen Telefonnummern, alten oder neuen Adressen, noch seinen Bankkonten, noch seiner Sozialversicherung.«

Mrs. Baudelaires helle Stimme klang mir im Ohr, als sie am Mittwoch morgen die schlechte Neuigkeit durchgab.

«Val Catto arbeitet jetzt an den Kreditkartennummern Ihrer Zielperson«, sagte sie.»Und er wüßte gern, warum er all diese Recherchen betreibt. Er sagt, er hat auch die Personaldaten der geschiedenen Frau Ihrer Zielperson durchgeschaut, und nirgends sieht er eins-fünf-eins, mit oder ohne drei unbekannten Stellen davor.«

Ich seufzte hörbar, enttäuscht.

«Wie wichtig ist das denn?«fragte sie.

«Läßt sich unmöglich sagen. Es könnte für die Katz sein, es könnte all unsere Probleme lösen. Niete oder Volltreffer, oder irgendwas dazwischen. Würden Sie dem Brigadier bitte ausrichten, daß eins-fünf-eins die Kombination für das rechtsseitige Schloß eines schwarzen Kroko-Aktenkoffers ist. Links haben wir drei Unbekannte.«

«Du meine Güte«, sagte sie.

«Könnten Sie ihm mitteilen, daß ich für seine Anweisungen dankbar wäre?«

«Könnte ich, junger Mann. Warum stehlen Sie den

Aktenkoffer nicht einfach und lassen sich Zeit?«

Ich lachte.»Daran habe ich schon gedacht, aber ich tu’s lieber nicht. Jedenfalls noch nicht. Wenn die Zahlen irgendwie logisch sind, ist es so am sichersten.«

«Val wäre es vermutlich lieber, wenn Sie nicht verhaftet würden.«

Oder vielleicht ermordet, dachte ich.

«Ich nehme an«, stimmte ich zu,»daß eine Verhaftung mich meinen Job kosten würde.«

«Sie wären nicht mehr unsichtbar?«

«Ganz recht.«

«Und ich fürchte«, sagte sie,»ich habe noch eine unangenehme Nachricht für Sie.«

«Was denn?«fragte ich.

«Bill sagt, die Wasserproben, die Sie ihm geschickt haben, waren nichts weiter als — Wasser.«

«Das ist eigentlich eine gute Nachricht.«

«So? Na, wie schön.«

Ich überlegte.»Ich glaube, ich rufe Sie heute abend noch mal an, bevor wir Winnipeg verlassen.«

«Ja, bitte«, stimmte sie zu.»Je weiter Sie nach Westen fahren, desto größer wird der Zeitunterschied, und desto länger dauert es mit den Antworten von Val Catto.«

«M-hm.«

Mrs. Baudelaire konnte den Brigadier nicht anrufen, wenn es bei ihm oder bei ihr gerade mitten in der Nacht war. Toronto, wo sie wohnte, lag fünf Stunden hinter London zurück, Winnipeg sechs, Vancouver acht. Zur Frühstückszeit in Vancouver traten Londons Büroangestellte die Heimfahrt an. Verwirrend für Brieftauben.

«Viel Glück«, sagte sie.»Bis demnächst.«

Inzwischen war ich ihre plötzlichen Abgänge gewohnt. Ich legte den Hörer auf, da ich nur Stille in der Leitung vernahm, und hätte gern gewußt, wie sie aussah und wie krank sie war. Ich würde nach Toronto zurückfahren, dachte ich, und sie besuchen.

Wieder flitzte ich per Bus zur Rennbahn und stellte fest, daß Assiniboia Downs über Nacht den ganzen Werberummel von Woodbine aufgefahren hatte, einschließlich T-Shirt-Ständen, Wimpeln und» Unterstützt den kanadischen Rennsport«-beschärpten Busen.

Den größten Teil des Nachmittags hielt ich erneut Ausschau nach dem Hageren und kam endlich zu dem Schluß, daß er, was immer er in dem Zug wollte, jedenfalls nicht aus übermäßigem Interesse am Rennsport mitfuhr. Die Rennbahnbesucher aus dem Zug waren im ganzen leicht zu erkennen, da sie alle mit großen rotweißen Rosetten ausgestattet zu sein schienen, auf denen in Gold die Aufschrift» Rennexpreß-Passagier «prangte. Und wie sich herausstellte, waren die Rosetten nicht auf die Leute vom vorderen Teil des Zuges beschränkt, denn als ich Zak traf, trug der auch eine und sagte mir, es habe jeder eine bekommen, die Besitzer eingeschlossen, wo sei also meine?