«Auf dem Gang zu reden ist fast genauso schlimm.«
«Stimmt«, sagte sie nickend.»Gute Nacht also.«
Ich sagte betrübt:»Gute Nacht«, und sie trat abrupt in ihr eigenes Reich und schloß die Tür.
Mit einem Seufzer ging ich ein paar Schritte weiter zu Georges Dienstabteil und fand ihn wie erwartet komplett angezogen, halb eingenickt, vor einer leeren Kaffeetasse und noch nicht ganz ausgefüllten, beiseitegeschobenen Formularen.
«Kommen Sie rein«, sagte er, augenblicklich hellwach.»Nehmen Sie Platz. Wie läuft’s?«
«So weit, so gut.«
Ich setzte mich auf das Örtchen und sagte ihm, daß die Wasserproben aus dem Pferdewaggon reines, unverfälschtes H2O gewesen waren.
«Das wird die Drachenlady aber freuen, eh?«sagte er.
«Waren Sie beim Pferderennen?«fragte ich.
«Nein, ich hab Verwandte in Winnipeg, die habe ich besucht. Und heute hab ich vorwiegend geschlafen, da ich wegen der Haltestellen die ganze Nacht aufbleibe. «Er wußte aber, daß Upper Gumtree gesiegt hatte.»Sie sollten mal die Party sehen, die im vorderen Aussichtswagen läuft. Sämtliche Pfleger sind betrunken. Die stocknüchterne Drachenlady kriegt sich nicht mehr ein, eh? weil sie versucht haben, dem Pferd einen Eimer
Bier zu geben. Im Dayniter singen sie aus vollem Hals Goldrauschlieder, und es ist ein Wunder, daß sie den Zug nicht vom Gleis gefegt haben bei dem Krach und der Alkoholzufuhr.«
«Es wäre wohl nicht so einfach, den Zug vom Gleis zu fegen?«sagte ich nachdenklich.
«Einfach?«sagte George.»Und ob es das ist. Man braucht nur zu schnell in die Kurve zu gehen.«
«Nun… mal angenommen, ein Fahrgast wollte verhindern, daß der Zug heil, froh und glücklich nach Vancouver kommt — was könnte der machen?«
Er sah mich ungerührt mit klaren Augen an.»Außer daß er den Pferden das Wasser vergiftet? Er könnte sich den Krimi zum Vorbild nehmen, würde ich sagen. Eine Leiche aus dem Zug werfen. Dann wären die Parties schnell zu Ende. «Er kicherte.»Man könnte jemanden von der Stoney-Creek-B rücke schmeißen — das ist eine hohe Bogenbrücke, die am Rogerpaß liegt. Langer Weg bis runter in die Schlucht. Hundert Meter und noch ein bißchen mehr. Bringt ihn der Sturz nicht um, würden es die Bären tun.«
«Bären!«rief ich aus.
Er strahlte.»Grizzlybären, eh? Die Rocky Mountains sind kein zahmer Hinterhof. Sie sind rauhe Natur. Die Bären auch. Die töten Menschen ohne weiteres. «Er legte den Kopf schräg.»Man könnte auch jemanden in den Connaught-Tunnel werfen. Der Tunnel ist fünf Meilen lang und unbeleuchtet. Da lebt eine Gattung von blinden Mäusen drin, die das Korn frißt, das aus den Getreidezügen fällt.«
«Niedlich«, meinte ich.
«Unter dem Boden Ihres Speisewagens liegt ein Weinkeller«, sagte er mit wachsendem Genuß.»Man hat beschlossen, ihn auf dieser Tour nicht zu benutzen, weil die Fahrgäste gestört werden könnten, wenn man ihn öffnet. Er ist groß genug, um eine Leiche drin zu verstecken.«
Seine Phantasie war noch beängstigender als meine, stellte ich fest.
«Eine im Weinkeller versteckte Leiche«, sagte ich höflich,»könnte allerdings die Passagiere stören.«
Er lachte.»Oder was ist, wenn da einer lebendig und gefesselt drinliegt und sich in Qualen windet?«
«Sich die Lunge aus dem Hals schreit?«
«Er ist geknebelt.«
«Falls wir jemanden vermissen«, versprach ich,»werden wir dort nachsehen. «Ich stand auf und schickte mich an zu gehen.
«Wo genau am Rogerpaß liegt die Stoney-Creek-Brücke?«fragte ich, in der Tür innehaltend.
Seine Augen glitzerten, die Tränensäcke kräuselten sich vor Vergnügen.»Ungefähr hundert Meilen hinter Lake Louise. Hoch oben in den Bergen. Aber keine Sorge, eh? Sie fahren da im Dunkeln drüber.«
Kapitel 13
Alle überlebten die Nacht, wenn auch einige beim Frühstück offensichtlich einen Kater hatten. Vor den Fenstern draußen war die scheinbar endlose Fels-, Seen- und Tannenlandschaft radikal abgelöst worden von weitgedehntem hügeligem Grasland, nicht mehr gelb vom bereits abgeernteten Getreide, sondern graugrün jetzt in der Ruhe vor dem Winter.
Während des Frühstücks hielten wir kurz in der kleinen Stadt Medicine Hat, die in einem Tal lag und sehr viel gewöhnlicher anmutete als ihr Name, Medizinhut. Die Fahrgäste stellten gehorsam ihre Uhren zurück, als Nell ihnen sagte, wir hätten jetzt Gebirgszeit, wollten aber wissen, wo denn die Berge seien.
«Die kommen heute nachmittag«, antwortete sie und verteilte das Tagesprogramm, das für 11 Uhr 30 Brisante Entwicklungen im Krimi versprach, mit anschließendem frühen Lunch. Wir würden um 12 Uhr 4 °Calgary erreichen, wo der Pferdewaggon ausgekuppelt werden sollte, und um halb zwei weiterfahren in die Rockies, hinauf nach Banff und Lake Louise. Dort würden die Besitzer aussteigen und per Bus zum Chateau gebracht werden, dem riesigen Hotel am Seeufer, inmitten einer Schneelandschaft von atemberaubender Schönheit. Cocktails und Alarmierende Entdeckungen gab es dann um halb sieben in einem Konferenzraum. Genießen Sie den Tag.
Mehrere Leute fragten, ob wir jetzt vor oder hinter dem regulären Canadian seien.
«Wir sind vor ihm«, sagte ich.
«Wenn wir eine Panne haben«, spaßte Mr. Unwin,»kann er uns dann ja rausreißen.«
Xanthe, die neben ihm saß, lachte nicht.»Ich wünschte, wir wären hinter ihm«, sagte sie.»Da würde ich mich sicherer fühlen.«
«Hinter dem Canadian sind Güterzüge«, wandte Mr. Unwin ein,»und vor uns sind Güterzüge. Und aus der Gegenrichtung kommen auch Güterzüge. Wir sind nicht ganz allein auf diesen Schienen.«
«Nein, wahrscheinlich nicht. «Sie schien immer noch Bedenken zu haben und sagte, sie habe vergangene Nacht in ihrem Oberbett wieder viel besser geschlafen, als sie es im Quartier ihrer Familie gekonnt hätte.
Ich brachte ihr den gewünschten französischen Toast und die Würstchen und goß ihr Kaffee ein, und Mr. Unwin, der mir seine Tasse zum Nachschenken hinhielt, fragte, ob ich in Winnipeg auf sein Pferd gesetzt hätte.
«Leider nein«, sagte ich bedauernd. Ich stellte seine Tasse aufs Tablett und schenkte mit kleinen Bewegungen ein.»Aber herzlichen Glückwunsch, Sir.«
«Waren Sie denn beim Pferderennen?«fragte mich Xanthe ohne allzu großes Interesse.
«Ja, MISS«, sagte ich.
Ich füllte Mr. Unwins Tasse und setzte sie vor ihn hin, dann ging ich mit Tablett und Kanne weiter zum nächsten Tisch, wo sich das Gespräch anscheinend eher um Zaks Krimi als direkt um Pferde drehte.
«Ich glaube, der Trainer hat Angelica umgebracht. Und den Pfleger auch.«
«Warum hätte er das tun sollen?«
«Er will Donna wegen ihres Geldes heiraten. Angelica wußte etwas, das die Heirat unmöglich gemacht hätte, deshalb hat er sie umgebracht.«
«Was wußte sie?«
«Vielleicht, daß er schon verheiratet ist.«
«Mit Angelica?«»Nun… warum nicht?«
«Aber wie geht das mit dem toten Pfleger zusammen?«
«Er hat gesehen, wie der Mörder das blutbespritzte Plastikteil verschwinden ließ.«
Sie lachten. Ich füllte ihre Tassen, ging weiter und schenkte Daffodil ein, neben der ein Platz leer war. Daffodil saß, in raschen, tiefen Zügen rauchend, bei den Flokatis und sonst niemand.
Kein Filmer.
Ich blickte durch den ganzen Speisewagen zurück, konnte ihn aber nirgends sehen. Er war nicht hereingekommen, während ich andere Gäste bediente, und er war nicht vorn bei der Küche gewesen, als ich angefangen hatte.
Daffodil sagte zu mir:»Könnten Sie mir einen Wodka bringen? Mit Eis und Zitrone.«
«Ich werde fragen, Madam«, sagte ich und fragte Emil, und er war es, der ihr höflich erklärte, daß der Barmann erst ab elf Dienst hatte und bis dahin alles unter Verschluß war.