«Gut«, sagte ich.»Auch Laurentide Ice nicht?«
«Schauen Sie selbst.«
Ich ging umher und sah mir jedes einzelne Pferd an, doch sie machten wirklich alle einen frischen, gesunden Eindruck, selbst Upper Gumtree und Flokati, bei denen verständlich gewesen wäre, wenn sie nach ihrer Kraftanstrengung dünn und erschöpft gewirkt hätten. Die meisten reckten ihre Köpfe über die Stalltüren vor, ein sicheres Anzeichen von Interesse; einige standen halb träumend ein oder zwei Schritte weiter hinten. Laurentide Ice betrachtete mich mit glasklaren Augen, viel besser in Schuß als sein Begleiter.
Ich kehrte zu Leslie Brown zurück und fragte sie nach dem Namen des Pflegers.
«Lenny«, sagte sie. Sie schaute auf einer Liste nach.»Leonard Higgs.«
«Wie alt ist er?«
«Um die Zwanzig, denke ich.«
«Wie ist er denn sonst so?«
«Wie die anderen. Voller unflätiger Ausdrücke und dreckiger Witze. «Sie blickte mißbilligend.»Jedes zweite Wort beginnt mit sch-.«
«Wann ging denn das Verkriechen und das Stöhnen los?«»Er lag die ganze Nacht da. Die andern Jungs sagten, er sei dran mit Hierbleiben, aber das stimmt nicht, er war bloß sturzbetrunken, und sie haben ihn einfach ins Heu gesetzt und sind wieder feiern gegangen. Vor etwa einer Stunde fing er an zu stöhnen, und er antwortet mir einfach nicht. «Sie war seinetwegen beunruhigt und wohl auch besorgt, man könnte sie für sein Verhalten verantwortlich machen.
Zu ihrer gelinden Überraschung zog ich meine gelbe Weste und den gestreiften Schlips aus und drückte ihr beides in die Hand.
Wenn sie sich ein wenig setzen wolle, schlug ich vor, würde ich versuchen, Lenny klarzukriegen.
Fast demütig willigte sie ein. Ich ließ sie mit meinen Amtsabzeichen auf ihren behosten Knien sitzen und kehrte zu dem Totalausfall im Heu zurück.
«Lenny«, sagte ich,»lassen Sie’s mal gut sein.«
Er stöhnte selbstvergessen weiter.
Ich hockte mich neben ihn auf einen der Heuballen und legte den Mund an sein eines sichtbares Ohr.
«Ruhe jetzt!«sagte ich laut.
Er zuckte zusammen und schnappte nach Luft, und nach einer kurzen Pause stöhnte er wieder los, nur daß es mir jetzt künstlich vorkam.
«Wenn Ihnen vom Biertrinken schlecht ist«, sagte ich energisch,»dann hol ich Ihnen was, damit es Ihnen besser geht, auch wenn Sie verdammt noch mal selbst dran schuld sind.«
Er kugelte sich noch fester zusammen und barg seinen Kopf in den Armen, als wollte er ihn gegen einen Schlag abschirmen. Es war eine Bewegung, die man unmöglich mißdeuten konnte; er fühlte sich nicht nur krank vom Alkohol — er hatte Angst.
Angst war die Fährte, die Julius Apollo Filmer hinterließ; die Spur seines Vorübergehens. Der furchtbar verängstigte Lenny war in der Tat ein vertrauter Anblick.
Ich knöpfte die oberen Knöpfe meines Hemdes auf, so daß der Kragen locker saß, und krempelte die Ärmel hoch, um eine zwanglose Atmosphäre zu schaffen, dann rutschte ich vor, bis ich am Boden saß und mein Kopf in Lennys Höhe war.
«Wenn Sie Bammel haben«, sagte ich klar und deutlich,»kann ich auch dagegen was tun.«
Viel passierte nicht. Er stöhnte ein paarmal und wurde still, und nach längerem Warten sagte ich:»Wollen Sie Hilfe haben oder nicht? Das Angebot ist sauber. Wenn Sie es nicht annehmen, wird das, wovor Sie Angst haben, wahrscheinlich eintreten.«
Nach einer sehr langen Stille drehte er den noch immer umschlungen gehaltenen Kopf, bis ich sein Gesicht sehen konnte. Er hatte gerötete Augen, war knochig, unrasiert und sabberte, und was aus seinem schlaff geöffneten Mund kam, war kein Stöhnen, sondern ein Krächzen.
«Wer zum Teufel sind Sie?«Er hatte einen englischen Akzent und eine aus Gewohnheit streitlustige Art zu reden, die sich mit seinem momentanen Zustand schlecht vertrug.
«Ihr Glück im Unglück«, sagte ich ruhig.;
«Hauen Sie ab«, sagte er.
«Gut. «Ich stand auf.»Schade«, sagte ich.»Bemitleiden Sie sich nur weiter und warten Sie ab, was es Ihnen bringt.«
Ich ging von ihm weg, verschwand aus seinem Blickfeld.
«He«, krächzte er und ließ es wie einen Befehl klingen.
Ich blieb, wo ich war.
«Warten Sie«, sagte er mit Nachdruck.
Ich wartete, ging aber nicht zu ihm zurück. Ich hörte es im Heu rascheln und dann ein echtes Stöhnen, als ihn der Kater packte, und schließlich kam er um die Ecke getorkelt, wobei er sich mit beiden Händen an der grünen Außenwand von Flokatis
Box festhielt. Er blieb stehen, als er mich sah. Glotzend, schwankend, das Rennexpreß-T-Shirt zerrissen und schmutzig, wirkte er dümmlich, erbärmlich und rückgratlos.
«Setzen Sie sich wieder hin«, sagte ich neutral.»Ich bringe Ihnen was.«
Er sackte gegen die grün gestrichene Box, drehte sich schließlich aber um und schlurfte dorthin zurück, woher er gekommen war. Ich ging zu Leslie Brown und fragte sie, ob sie Aspirin habe.
«Aspirin nicht, aber das hier«, sagte sie und holte eine Schachtel aus einer Segeltuchtasche.»Die tun’s vielleicht auch.«
Ich dankte ihr, füllte einen Plastikbecher mit Wasser und schaute nach, wie es Lenny ging. Den Kopf in die Hände gestützt, saß er auf dem Heu wie ein Bild des Elends und sah schon viel normaler aus.
«Trinken Sie. «Ich reichte ihm das Wasser.»Und schlucken Sie die dazu.«
«Sie sagten, Sie könnten mir helfen.«
«Ja. Nehmen Sie erst mal die Tabletten.«
Er war im großen ganzen gewohnt, zu tun, was man ihm sagte, und er mußte wohl auch einigermaßen sein Handwerk verstehen, wenn man ihn mit Laurentide Ice quer durch Kanada geschickt hatte. Er schluckte die Tabletten und trank das Wasser, und natürlich war sein körperliches Unbehagen dadurch nicht gleich wie weggeblasen.
«Ich will raus hier«, sagte er in einem Ausbruch von sinnloser Heftigkeit.»Raus aus dem verdammten Zug. Weg von der ganzen bescheuerten Tour. Und ich hab kein Geld. Ich hab’s verspielt. Es ist futsch.«
«In Ordnung«, sagte ich.»Ich kann Sie rausholen.«
«Ehrlich?«Er war überrascht.
«Ehrlich.«»Wann?«
«In Calgary. Zwei Stunden noch. Dann können Sie gehen. Wohin wollen Sie?«
Er machte große Augen.»Sie nehmen mich auf den Arm«, sagte er.
«Nein. Ich sehe zu, daß man sich um Sie kümmert, und lasse Ihnen eine Fahrkarte ausstellen, wohin Sie möchten.«
Verwirrung trübte die aufkommende Hoffnung in seinem Gesicht.
«Was ist mit dem alten Icy?«sagte er.»Wer kümmert sich um den?«
Zum erstenmal hatte er einen Gedanken geäußert, der nicht von nacktem Selbstmitleid geprägt war, und ich empfand den ersten Funken Mitgefühl.
«Wir besorgen einen anderen Pfleger für Icy«, versprach ich.
«Calgary ist voll von Pferdeleuten.«
So ganz stimmte das nicht. Das Calgary, das ich kannte, war eine der sechs größten Städte Kanadas gewesen, halb so groß wie Montreal, mit ebensoviel Einwohnern wie Zentral-Toronto. Die Zahlen hatten sich inzwischen vielleicht etwas geändert, wahrscheinlich aber nicht sehr. Calgary war kein staubiges Viehdorf im alten Westen, sondern eine wolkenkratzerbestückte moderne Großstadt, die wie eine glitzernde Oase am Rand der Prärie aufragte; und die Stampede, an der ich damals im Juli als Bronco-Reiter teilgenommen hatte, war ein straff organisiertes 10-Tage-Rodeo, veranstaltet in einem Stadion mit gleichzeitig laufendem Kunst- und Bühnenprogramm und allem Pomp und Zubehör großangelegter Touristenunterhaltung. Auf jeden Fall gab es in Calgary aber selbst im Oktober genug Pferdeleute, um einen Pfleger für Laurentide Ice aufzutreiben.
Ich beobachtete, wie Lenny sich entschloß, sein Pferd, seinen Job und die unerträgliche Gegenwart über Bord zu werfen. Aus Sorge, ich könnte die ganze Geschichte verpfuschen, da ich diese Art der Aufklärung noch nie praktiziert hatte, rief ich mir die Richtlinien in Erinnerung, die John Millington für den Umgang mit Leuten wie dem Zimmermädchen in Newmarket aufgestellt hatte. Schutz anbieten, jede Zusage machen, die etwas einbringen könnte; ködern, ermutigen, um Mithilfe bitten.