Um Mithilfe bitten.
«Könnten Sie mir sagen, warum Sie nicht bis Vancouver weiterfahren wollen?«
Ich stellte die Frage ganz beiläufig, doch sie versetzte ihn prompt wieder in panischen Schrecken, wenn auch nicht in die Fötushaltung.
«Nein. «Er bebte vor lauter Angst.»Hauen Sie ab. Das geht Sie einen Dreck an.«
Ohne viel Federlesens entfernte ich mich wieder von ihm, ging aber diesmal weiter weg, vorbei an Leslie Brown, bis an die Ausgangstür.
«Bleiben Sie da«, sagte ich im Vorübergehen zu ihr.»Sie reden kein Wort mit ihm, ja?«
Sie schüttelte den Kopf, verschränkte ihre dünnen Arme über meiner Weste und vor ihrer Brust. Der Drachen, dachte ich flüchtig, ließ sein Feuer ruhen.
«He«, rief Lenny hinter mir.»Kommen Sie zurück.«
Ich drehte mich nicht um.
Er schrie verzweifelt aus vollem Hals:»Ich will von dem Zug runter!«
Es war ein ernstgemeinter Hilferuf, dachte ich.
Langsam ging ich zurück. Er stand zwischen Flokatis Box und der von Sparrowgrass, wankte hin und her, beobachtete mich mit wilden Blicken.
Als ich bei ihm war, sagte ich einfach:»Warum?«»Er bringt mich um, wenn ich es Ihnen sage.«
«Das ist doch Quatsch«, gab ich zurück.
«Ist es nicht. «Seine Stimme war schrill.»Er sagte, dann wär's aus mit mir.«
«Wer hat das gesagt?«
«Er. «Lenny zitterte. Die Drohung war jedenfalls so überzeugend gewesen, daß er an sie glaubte.
«Was heißt, er?«fragte ich.»Einer von den Besitzern?«
Er sah mich verständnislos an, als redete ich chinesisch.
«Was heißt, er?«fragte ich nochmals.
«Irgend so ein Typ… ich hatte ihn noch nie gesehen.«
«Kommen Sie«, sagte ich beruhigend,»wir gehen wieder nach hinten, setzen uns aufs Heu, und Sie erzählen mir, weshalb er gesagt hat, er würde Sie umbringen. «Ich deutete über seine Schultern weg auf die Heuballen, und erschöpft stolperte er gehorsam zu ihnen hin und sackte zu einem kläglichen Häufchen zusammen.
«Wie hat er Ihnen Angst gemacht?«sagte ich.
«Er kam… zu den Ställen… hat nach mir gefragt.«
«Namentlich nach Ihnen gefragt?«
Er nickte bedrückt.
«Wann war das?«
«Gestern«, sagte er heiser.»Während der Rennen.«
«Weiter.«
«Er sagte, er wüßte, daß das Futter vom alten Icy in numerierten Säcken ist. «Lenny hörte sich gekränkt an.»Na, das war ja kein Geheimnis, oder?«
«Nein«, sagte ich.
«Er sagte, er wüßte auch, warum… weil das andere Pferd von Mrs. Quentin gestorben ist…«Lenny schwieg und sah aus, als habe sich ein Abgrund vor ihm aufgetan.»Auf einmal fing er an, ich wär's gewesen…«
«Was denn?«
Lenny schwieg.
«Sagte er, Sie hätten das andere Pferd von Mrs. Quentin vergiftet?«tippte ich an.
«Hab ich doch gar nicht. Woher denn?«Er war hocherregt.
«Hab ich wirklich nicht.«
«Aber der Mann sagte, Sie hätten das getan?«
«Er sagte, dafür würde ich ins Gefängnis kommen, und >mit Jungens wie dir machen sie schlimme Sachen im Gefängnis<. «Er fröstelte.»Ich weiß schon, was da läuft. Und er sagte… >Willst du dir vielleicht Aids einfangen? Das kriegst du nämlich im Gefängnis, so ’n hübscher Junge wie du.<«
Hübsch sah er in dem Moment nicht aus.
«Und dann?«half ich nach.
«Na ja, ich… Also, ich…«Er schluckte.»Ich sagte, ich hätte das nicht getan, ich wär's nicht gewesen… und er blieb dabei, daß ich ins Gefängnis kommen und Aids kriegen würde, und hörte gar nicht mehr auf… und da sagte ich ihm… ich sagte ihm.«
«Was sagten Sie ihm?«
«Sie ist nett, die Frau«, jammerte er.»Ich wollte es nicht… er hat mich dazu gezwungen.«
«War es Mrs. Quentin«, fragte ich behutsam,»die ihr Pferd vergiftet hat?«
Er sagte unglücklich:»Ja. Nein. Also… sie gab mir so einen Sack mit Leckereien… es wären Pferdekuchen, sagte sie… und die sollte ich ihrem Pferd geben, wenn keiner hinsah… Ich hab nämlich das Pferd sonst nicht versorgt, das war ein anderer Pfleger. Also gab ich ihrem Pferd die Pferdekuchen irgendwie heimlich, und es kriegte eine Kolik und quoll auf und starb. Na ja, ich hab sie hinterher gefragt. Ich hatte ja solche Angst… aber sie sagte, es wäre einfach furchtbar, sie hätte nicht geahnt, daß ihr geliebtes Pferd davon eine Kolik bekommt. Wir wollen das mal für uns behalten, sagte sie und gab mir hundert Dollar, und ich hielt dicht… ich wollte nicht, daß man mir die Schuld zuschiebt, verstehen Sie?«
Ich verstand.
Ich sagte:»Und wie hat der Mann reagiert, als Sie ihm von den Pferdekuchen erzählt haben?«
Lenny sah niedergeschlagen drein.»Gegrinst hat er, wie ein Haifisch… nichts als Zähne… und er sagte… wenn ich irgendwem auch nur ein Wort von ihm erzähle… sorgt er dafür, daß ich… daß ich…«er beendete den Satz mit einem Flüstern,»Aids bekomme.«
Ich seufzte.»War das die Drohung, wie er Sie umbringen will?«
Er nickte schwach, als wäre er fix und fertig.
«Wie sah er aus?«fragte ich.
«Wie mein Dad. «Er hielt inne.»Ich konnte meinen Dad nicht ausstehen.«
«Hörte er sich auch an wie Ihr Dad?«fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.»Das war kein Brite.«
«Kanadier?«
«Oder Amerikaner.«
«Gut«, sagte ich, da mir die Fragen ausgingen,»ich werde dafür sorgen, daß Sie kein Aids bekommen. «Ich dachte nach.»Bleiben Sie hier im Wagen, bis wir in Calgary sind. Miss Brown läßt Ihnen von einem anderen Pfleger Ihre Tasche bringen. Der Pferdewaggon wird in Calgary abgehängt, und die Pferde werden per Transporter für zwei Tage in einen Stall geschafft. Da fahren alle Pfleger mit, wie Sie sicher wissen. Sie fahren auch mit ihnen. Und keine Sorge. Es wird Sie jemand abholen, und der bringt einen anderen Pfleger für Icy mit. «Ich hielt inne, um zu sehen, ob er verstand, doch es hatte ganz den Anschein.»Wohin wollen Sie von Calgary aus?«
«Ich weiß nicht«, sagte er dumpf.»Muß ich mir überlegen.«
«In Ordnung. Wenn dieser Jemand Sie holen kommt, sagen Sie ihm, was Sie wollen.«
Er sah mich halbwegs verwundert an.»Was kümmert Sie das alles?«fragte er.
«Ich mag keine Angstmacher.«
Er schauderte.»Mein Dad hat den Leuten fürchterlich Angst eingejagt… und mir und Mum… und einer hat ihn niedergestochen, ihn umgebracht… geschah ihm recht. «Er schwieg.»Keiner hat je den Leuten geholfen, die er verängstigt hat. «Er schwieg wieder, rang nach dem ungewohnten Wort und sprach es aus.
«Danke.«
Mit vorschriftsmäßig geordneten Knöpfen und Krawatte kehrte Tommy in den Speisewagen zurück. Zak beendete gerade eine Szene, in welcher Ben, der alte Pfleger, der Raoul auf dem Bahnhof Toronto um Geld angehauen hatte, aus dem Rennbahnbesucherabschnitt des Zuges herbeizitiert worden war, um Raoul durch die (falsche) Aussage zu belasten, er habe die Pferde der Bricknells gedopt — ein Vorwurf, den Raoul, der es fertigbrachte, zugleich rechtschaffen und vielleicht doch schuldig auszusehen, glatt von sich wies. Im großen ganzen fand schließlich Raoul mehr Sympathie, da Ben so gehässig herumquengelte, und Zak teilte allen mit, daß am Abend ein Ungemein Wichtiger Zeuge nach Chateau Lake Louise kommen werde, um Vernichtendes Zeugnis abzulegen. Gegen wen? fragten einige. Ah, meinte Zak geheimnisvoll, als er in Richtung Gang entschwand, das werde allein die Zeit lehren.
Emil, Oliver, Cathy und ich deckten die Mittagstische und servierten die drei Gänge. Filmer kreuzte nicht auf, aber Daffodil kam, noch immer wütend und erschüttert wie beim Frühstück. Ihre Koffer waren offenbar gepackt, und sie bestand darauf, die Gruppe in Calgary zu verlassen. Anscheinend hatte niemand aus ihr herausbekommen können, was eigentlich los war, und die Beziehungskrachtheorie hatte an Boden gewonnen.