Cathy kicherte.»Wie lange wollen Sie das durchziehen?«
«Bis zum Schluß, denke ich.«
«Aber wann kommt Ihr Auftritt?«
«Ah…«sagte ich,»da liegt das Problem. Ganz zum Schluß. Ich werde also bis Vancouver Geschirr abtrocknen.«
«Sind Sie der Mörder?«fragte sie neckend.
«Ganz und gar nicht.«
«Das letztemal, als wir einen Schauspieler hatten, der sich als Kellner ausgab, war er der Mörder.«
«Der Mörder«, sagte ich,»ist der Fahrgast, dem Sie immer die besten Portionen zuteilen. Der gutaussehende Junggeselle, der zu allen so nett ist.«
Sie riß die Augen auf.»Das ist doch ein Besitzer«, sagte sie.
«Es ist ein Schauspieler. Und verraten Sie ihn nicht.«
«Natürlich nicht. «Sie blickte jedoch ein wenig verträumt, als habe sie etwas Erfreuliches gehört. Ich mochte ihr nicht die Illusionen nehmen, was ihre Aussichten oder die irgendeines anderen Mädchens bei dem tollen Giles betraf; sie würde es früh genug merken.
Als die Arbeit schließlich getan war, hüpfte Cathy hinaus in den Trubel des Bahnhofs, und an ihrer Stelle half ich Emil und Oliver, die ganze Ausrüstung wegzusperren, denn wenn in Lake Louise alles ausstieg, würde der Zug wieder zwei Tage kalt und stumm auf einem Nebengleis stehen, vor dem letzten Stück westwärts zum Pazifik.
Einige, aber nicht alle Fahrgäste waren in Calgary sozusagen an Land gegangen, und diejenigen, die im Bahnhof gewesen waren, kamen rechtzeitig zurück, einschließlich der Youngs. Von Filmer keine Spur, auch nicht von dem Hageren. Der Speisewagen füllte sich wieder halb mit Leuten, die sich lieber dort als in ihrem Abteil aufhielten, und von ihnen hörte ich, daß der Pferdewaggon glücklich ausgehängt und von der Lok abgeschleppt worden war, so daß wir anderen vorübergehend festsaßen.
Der Zug drei Gleise weiter, so erzählten sie einander, war der reguläre Canadian, der pünktlich fünfunddreißig Minuten nach uns eingetroffen war und dessen Passagiere sich jetzt auch die
Beine vertraten. Der Canadian, einst eine Bedrohung, war in der allgemeinen Wahrnehmung offenbar zu einem Freund geworden; unser Doppelgänger und Gefährte auf der Reise. Die Fahrgäste hatten sich zusammengefunden und Meinungen ausgetauscht. Die Zugführer hatten sich zu einem Gespräch getroffen.
Ein Ruck und ein Schüttern ging durch den Zug, als die Lok zurückkam und sich einklinkte, und bald darauf waren wir wieder unterwegs; die Fahrgäste strömten jetzt zum Aussichtswagen, um vom Oberdeck den Aufstieg in die Berge zu genießen.
Filmer war zu meiner gelinden Überraschung unter denen, die durch den Speisewagen kamen, und gleich hinter ihm war Nell, die mich über Filmers Schulter hinweg ansah und sagte:»Ich habe eine Nachricht von George Burley für Sie.«
«Entschuldigen Sie, Miss«, sagte ich abrupt und glitt zwischen zwei Tischen zurück, um Filmer vorbeizulassen,»ich komme gleich zu Ihnen.«
«Was?«Sie war verdutzt, blieb aber stehen und trat ebenfalls zur Seite, um die hinter ihr Kommenden durchzulassen. Filmer selbst war zügig weitergegangen, ohne Nell oder mich im mindesten zu beachten, und als er ganz hinten im Wagen war und eine leise Unterhaltung bestimmt nicht mehr hören konnte, wandte ich mich fragend wieder Nell zu.
«Das Ganze ist ein bißchen verworren«, sagte sie. Sie stand auf der anderen Seite des Tisches und sprach über ihn weg.»Anscheinend klingelte das Telefon in George Burleys Büro, als er wieder einstieg, und eine Frau war dran, die einen Mr. Kelsey sprechen wollte. George Burley sah auf seinen Listen nach und sagte, es sei kein Mr. Kelsey im Zug. Da bat sie ihn, mir etwas auszurichten, und das hat er getan.«
Es mußte Mrs. Baudelaire gewesen sein, dachte ich — sonst kannte niemand die Nummer. Bill hätte man niemals für eine
Frau halten können. Doch wohl nicht seine Sekretärin…? Gott behüte.
«Was läßt sie ausrichten?«fragte ich.
«Ich weiß nicht, ob George Burley und ich es richtig verstanden haben. «Sie runzelte die Stirn.»Es gibt keinen Sinn, aber… null-neunundvierzig. Das ist die ganze Nachricht, nullneunundvierzig. «Sie sah mir ins Gesicht.»Sie scheinen ja ganz zufrieden damit zu sein.«
Ich war allerdings auch entsetzt, wie nah Filmer daran gewesen war, es zu hören.
Ich sagte:»Ja, gut… erzählen Sie bitte niemand anderem von der Nachricht, und wenn’s geht, vergessen Sie sie bitte.«
«Kann ich nicht.«
«Das habe ich befürchtet. «Ich suchte nach einer zumindest halbwegs einleuchtenden Erklärung.»Es dreht sich um die Grenze zwischen Kanada und Amerika«, sagte ich,»um den neunundvierzigsten Breitengrad.«
«Na sicher. «Wie es aussah, war sie zwar eher unsicher, aber bereit, es dabei bewenden zu lassen.
Ich sagte:»Irgendwann heute abend wird jemand einen an Sie adressierten Brief ins Chateau bringen. Er enthält ein Foto. Er ist für mich, von Bill Baudelaire. Lassen Sie ihn mir zukommen?«
«Ja, okay. «Sie schaute kurz auf ihr Klemmbrett.»Ich wollte Sie sowieso wegen der Unterkunft sprechen. «Ein oder zwei Passagiere kamen vorbei, und sie wartete, bis sie fort waren.
«Das Zugpersonal wohnt im Gesindehaus von Chateau Lake Louise und die Schauspieler im Hotel selbst. Wohin möchten Sie? Ich muß die Liste schreiben.«
«Unsere Fahrgäste sind im Hotel?«
«Unsere ja, aber nicht die Rennbahnbesucher. Die steigen alle in Banff aus. Das ist der Ort vor Lake Louise. Die Besitzer wohnen alle im Hotel. Ich auch. Was möchten Sie?«»Bei Ihnen sein.«
«Ernsthaft.«
Ich überlegte kurz.»Gibt es noch andere Möglichkeiten?«
«Etwa eine Meile vom Chateau ist ein Dorf oder so, aber das besteht nur aus ein paar Läden, und die schließen um diese Jahreszeit, machen dicht für den Winter. In den Bergen ist jetzt schon vieles geschlossen. «Sie hielt inne.»Das Chateau steht für sich allem am Seeufer. Es ist schön dort.«
«Ist es groß?«fragte ich.
«Riesig.«
«Okay. Ich steige dort ab und riskiere es.«
«Was denn?«
«Daß man mir die Weste runterreißt.«
«Die brauchen Sie doch da nicht anzuhaben«, versicherte sie mir.
«Nein. bildlich gesprochen.«
Sie senkte das Klemmbrett und drückte ihren Kuli ein, um zu schreiben.
«Tommy Titmouse«, sagte ich.
Ihre Mundwinkel gingen nach oben.»T. Titmuss. «Sie buchstabierte es.»Gut so?«
«Prima.«
«Was sind Sie wirklich?«
«Warten Sie’s ab«, sagte ich.
Sie warf mir einen schrägen Blick zu, erwiderte aber nichts, da Passagiere vorbeikamen, die Fragen an sie hatten, und ich ging weiter in den Aussichtswagen, um zu erkunden, wie fest Julius Apollo dort verwurzelt war. Vor allem fragte ich mich, ob ich getrost versuchen konnte, Einblick in seinen Aktenkoffer zu bekommen, oder mich strikt nach dem Befehl richten sollte, nicht das Risiko einer Verhaftung einzugehen. Hätte er nicht gehofft, daß ich nachsehe, hätte der Brigadier die Zahl nicht durchgegeben. Sah ich aber nach und wurde dabei erwischt, platzte das ganze Unternehmen.
Filmer war nirgends zu sehen.
Vom Kopf der Treppe suchte ich noch einmal die Reihen der Hinterköpfe unterm Aussichtsdeck ab. Kein dichter schwarzer, glattgebürsteter Schopf mit einzelnen grauen Strähnen. Kahl, blond, strubblig und gepflegt, aber kein Filmer.
Er war nicht unten im Gesellschaftsraum und auch nicht in der Bar, wo wie üblich, blind für die Landschaft, die Pokerrunde tagte. Blieb nur der Wagen der Lorrimores… Er mußte bei Mercer, Bambi und Sheridan sein. Xanthe war bei Rose und Cumber Young und beobachtete das Herannahen der fernen weißen Gipfel unter wolkenlosem Himmel.
Ich ging unschlüssig zurück in Richtung Filmers Abteil, fragte mich, ob meine Abneigung, es zu betreten, lediglich Vorsicht war oder aber nackte Angst, und befürchtete, es sei letzteres.