Ich mußte es wohl tun, dachte ich, denn tat ich es nicht, würde ich zuviel Zeit meines Lebens damit verbringen, das zu bereuen. Eine bleibende Vier minus in der Bilanz. Bis ich den Speiseraum verließ und in den Gang neben der Küche eintauchte, fühlte ich mich bereits außer Atem, spürte mein Herz, und das war überhaupt nicht gut fürs Selbstvertrauen. Mit trockenem Mund lief ich durch den kühlen, sich unter mir bewegenden Verbindungsgang, öffnete und schloß die Türen, kam der riskanten Aufgabe mit jedem Schritt näher.
Filmers Abteil war das erste im Schlafwagen hinter der Küche. Ich bog mit dem größten Widerwillen um die Ecke in den Gang ein und war gerade dabei, meine Hand auf den Türgriff zu legen, als der Schlafwagensteward, genauso gekleidet wie ich, aus seinem Einzelabteil am anderen Ende des Wagens trat, mich erblickte, mir winkte und auf mich zukam.
Mit feiger Erleichterung ging ich ihm langsam entgegen, und er sagte» hallo «und» wie geht’s?«
Es war der alte Bekannte, der mir von Filmers Privatfrühstück erzählt hatte, der mir gezeigt hatte, wie man die Betten und die Sitze aufschlug und zusammenklappte; derjenige, der sich um den Wagen kümmerte, in dem wir uns befanden, und um die drei Schlafräume im Aussichtswagen, darunter auch Daffodils. Er hatte den ganzen Nachmittag Zeit, war freundlich und zum Reden aufgelegt, und er machte es mir unmöglich, ihn abzuschütteln und mich wieder meinem ruchlosen Treiben zu widmen.
Er redete von Daffodil und dem Chaos, das sie in ihrem Abteil angerichtet hatte.
Chaos?
«Wenn Sie mich fragen«, sagte er nickend,»dann hat die eine Flasche Wodka in ihrem Koffer gehabt. Überall lagen Glasscherben rum. Kaputte Wodkaflasche. Und erst der Spiegel überm Waschbecken. Zerdonnert. Splitter im ganzen Abteil. Ich nehme an, sie hat die Flasche in den Spiegel gefeuert, und dabei ging beides zu Bruch.«
«Blöd, daß Sie so was aufräumen müssen«, sagte ich.
Er schien überrascht.»Ich hab’s nicht aufgeräumt. Es ist noch so. George kann sich’s mal ansehen. «Er zuckte die Achseln.»Ich weiß nicht, ob die Bahn sich das von ihr bezahlen läßt. Sollte mich nicht wundern.«
Er blickte über meine Schulter auf jemanden, der aus dem Speisewagen kam.
«Guten Tag, Sir«, sagte er.
Von hinter mir kam keine Antwort. Ich drehte den Kopf und sah Filmers Rückansicht in seinem Abteil verschwinden.
Großer Gott, dachte ich entsetzt: Ich wäre da drin gewesen, vor mir seinen offenen Aktenkoffer, hätte in seinen Papieren gelesen. Mir wurde fast schlecht.
Ich spürte mehr als ich sah, daß Filmer wieder aus seinem Abteil und zu uns herüberkam.
«Kann ich Ihnen helfen, Sir?«sagte der Schlafwagensteward und ging an mir vorbei auf Filmer zu.
«Ja. Was wird in Lake Louise mit unserem Gepäck?«
«Überlassen Sie das mir, Sir. Wir sammeln alle Taschen ein und schaffen sie zum Chateau. Sie werden Ihnen dort aufs Zimmer gebracht, Sir.«
«Gut«, sagte Filmer, ging zurück in seine Höhle und schloß die Tür. Bis auf einen ganz flüchtigen Blick etwa in Taillenhöhe hatte er mich überhaupt nicht angesehen.
«Wir haben es in Winnipeg mit dem Gepäck auch schon so gemacht«, sagte der Schlafwagensteward resigniert zu mir.»Man sollte meinen, sie lernen es.«
«Vielleicht tun sie’s bis Vancouver.«
«Jaja.«
Ich ließ ihn nach einer Weile allem und setzte mich in mein Abteil, atmete tief durch und dankte allen Schutzengeln im Himmel für meine Rettung, insbesondere aber dem Engel in des Schlafwagenstewards gelber Weste.
Vor dem Fenster draußen wurde die Verheißung der Berge zur Umarmung, felsige, mit hohen, schlanken Kiefern bewachsene Hänge drängten bis an die Bahnstrecke heran, die sich durch das Tal des Bow River wand. Auf vielen Telegrafenmasten thronten dicke, unförmige Ansammlungen von Knüppeln und Zweigen wie Ascothüte, was recht ungewöhnlich aussah; einer der Fahrgäste hatte gesagt, die Hüte seien Fischadlerhorste, und die Masten würden eigens für sie mit Plattformen ausgestattet. Tapfere Vögel, dachte ich, daß sie ihre Eier über den dröhnenden Zügen legten. Federsträubende Unterhaltung für die Brut.
Nach der flott durchratterten Prärie ächzten wir jetzt langsamer bergauf, so daß der Zug zwei Stunden brauchte, um die siebzig Meilen von Calgary nach Banff zurückzulegen. Als er dort im breiten Abschnitt des Tals anhielt, umgaben uns die schneebedeckten Gipfel plötzlich wie ein hochragender, glitzernder, ungleichmäßiger Ring, und wir sahen, daß sich das eigentliche Gebirge in kahler majestätischer Pracht über den dichtgedrängten bewaldeten Vorbergen erhob. Wie die meisten Menschen spürte auch ich jetzt die starke Anziehung, die von geheimnisvollen, in eisiger Höhe gelegenen Orten ausgeht, und Filmer oder nicht, ich lächelte vor Freude und fühlte mich ganz und gar unbeschwert.
In Calgary war es auffallend warm gewesen, was man dem Föhn zuschrieb, der von den Bergen herabwehte, doch in Banff war es ausgesprochen kalt. Die Lok schnaufte hm und her, riß den Zug in zwei Teile, schleppte die Rennbahnbesucher und den ganzen vorderen Teil auf ein Abstellgleis und kehrte zurück, um nur den Besitzerabschnitt weiterzubefördern — die drei Schlafwagen, den Speisewagen, den Aussichtswagen und die Lorrimores. Verkürzt und sehr viel leichter kletterte dieser Rest des Zuges in gutem Tempo noch eine Dreiviertelstunde bergan und hielt im Triumph vor der Blockhüttenstation von Lake Louise.
Bestens gelaunt stiegen die Passagiere aus, selbst in ihren Mänteln zwar noch fröstelnd nach der Wärme in den Wagen, doch voller Erwartung, und niemand dachte mehr an Daffodil. Sie strömten in einen bereitstehenden Bus, während ihr Gepäck in ein anderes Fahrzeug geladen wurde. Ich klammerte mich noch an die Hoffnung, Filmer werde seinen Aktenkoffer dort mit aufgeben, doch als er aus dem Zug kam, war der Koffer fest in seiner Hand.
Ich sagte Nell, ich würde die letzte Meile vom Bahnhof aus zu Fuß gehen, um erst einzutreffen, wenn alle sich angemeldet und die Halle geräumt hatten. Sie meinte, ich könne doch mit dem Personal im separaten Bus hochfahren, doch ich vertraute ihr meine Tasche an, knöpfte meinen grauen Einheitsregenmantel bis zum Hals zu und genoß den Spaziergang durch die frische kalte Luft und das dunkler werdende Herbstgold der späten Nachmittagssonne. Als ich die Empfangshalle des großen Chateaus erreichte, war sie überfüllt von höflichen jungen japanischen Paaren in Flitterwochen, doch die Unwins, die Youngs, die Flokatis waren fort.
Nell saß lang ausgestreckt in einem Sessel in der Halle, als würde sie nie mehr die Energie aufbringen, sich zu erheben, und ich setzte mich neben sie, bevor sie noch gemerkt hatte, daß ich da war.
«Sind alle untergebracht?«fragte ich.
Sie seufzte tief und rührte sich nicht mal versuchsweise.»Die Suite, die ich für die Lorrimores gebucht hatte, ist eine halbe Stunde vor unserer Ankunft anderweitig vergeben worden. Die Leute wollen nicht raus, die Direktion entschuldigt sich nicht, und Bambi ist nicht gerade erbaut.«
«Ich kann es mir vorstellen.«
«Andererseits sitzen wir mit dem Rücken zu einer der schönsten Aussichten der Welt.«
Ich drehte mich um, blickte über die Sessellehne und sah zwischen sich drängenden Japanern schwarzweiße Berge, einen türkisblauen See, grüne Kiefern und einen vorrückenden Gletscher, als wäre es ein Bühnenbild, ehrfurchterregend nah und von den Fenstern eingerahmt.
«Toll«, sagte ich beeindruckt.
«Es läuft schon nicht weg«, sagte Nell nach einer Weile.»Morgen ist das alles auch noch da.«
Ich ließ mich in den Sessel zurückplumpsen.»Es ist unglaublich.«
«Deswegen kommen die Leute seit Generationen hierher und schauen es sich an.«»Ich hatte eigentlich mehr Schnee erwartet«, sagte ich.
«Bis Weihnachten wird er knietief sein.«
«Haben Sie auch mal frei hier?«fragte ich.
Sie blickte mich von der Seite an.»Hin und wieder fünf Sekunden, aber allein bin ich so gut wie nie.«