Laurentide Ice, so hatte ein kundiger Fahrgast zu Beginn der Reise gesagt, sei der Name einer der letzten gewaltigen polaren Eisdecken, die vor zwanzigtausend Jahren den größten Teil Kanadas überzogen hatten. Worauf Daffodil nickend erklärte, ihr Mann habe das Pferd so genannt, weil er sich für Vorgeschichte interessierte, und sie wolle ihr nächstes Pferd Cordilleran Ice nennen, nach der Eiskappe, die die Rockies überzogen hatte. Ihrem Mann würde das gefallen haben, meinte sie. Womöglich stand ich gerade auf vorgeschichtlichem kordillerischem Eis, dachte ich, aber wenn Gletscher sich schneller bewegten als die Geschichte, vielleicht auch nicht. Jedenfalls verloren die Belange Julius Apollos aus dieser Sicht etwas an Bedeutung.
Zurück im Chateau, ging ich nach oben und entwarf eine neue Szene für das Manuskript, und kaum hatte ich sie fertig, klopfte auch schon Zak an, um danach zu fragen. Wir gingen in sein Zimmer, wo sich die Darsteller bereits für die Probe versammelt hatten, und ich blickte in die siebenköpfige Runde und fragte, ob uns noch Bettler Ben zu Diensten stand, der nicht im Raum war. Nein, sagte Zak; er sei nach Toronto zurückgekehrt. Spielte es eine Rolle?
«Eigentlich nicht. Er hätte als Bote auftreten können, aber ich nehme an, das läßt sich umgehen.«
Sie nickten.
«Gut«, sagte Zak, auf seine Uhr schauend.»In zweieinhalb Stunden sind wir auf der Bühne. Was fangen wir an?«
«Als erstes«, sagte ich,»kriegt. Raoul sich mit Pierre in die Wolle. Raoul ist sauer, weil man ihn als Angelicas Mann entlarvt hat, und er sagt, er weiß definitiv, daß Pierre Tausende
Dollar Spielschulden hat, die er nicht bezahlen kann, und er weiß auch, wem Pierre sie schuldet, und er sagt, der Mann sei dafür bekannt, daß er Leute, die nicht zahlen, zusammendrischt.«
Raoul und Pierre nickten.»Da bringe ich ein paar Einzelheiten rein«, sagte Raoul.»Ich werde sagen, daß die Schulden aus illegalen Pferdewetten stammen und daß ich davon gehört habe, weil es um die Pferde der Bricknells ging, okay?«
«Ja, okay. Dann hält Raoul Pierre vor, seine einzige Chance, das Geld zusammenzukriegen, sei, daß er Donna heirate, und Walter Bricknell sagt, wenn Donna so blöd ist, Pierre zu heiraten, bekommt sie keinen roten Heller von ihm. Unter gar keinen Umständen wird er Pierres Schulden bezahlen.«
Alle nickten.
«An dem Punkt kommt Mavis Bricknell schreiend in den Salon und sagt, daß ihr ganzer schöner Schmuck gestohlen worden ist.«
Sie setzten sich steil auf. Mavis lachte und klatschte in die Hände.»Wer hat ihn gestohlen?«sagte sie.
«Alles zu seiner Zeit«, lächelte ich.»Raoul beschuldigt Pierre, Pierre beschuldigt Raoul, und sie fangen an, sich herumzuschubsen, lassen ihren ganzen gegenseitigen Haß raus. Schließlich schreitet Zak ein, trennt sie und sagt, sie werden jetzt alle losziehen und sowohl Pierres als auch Raouls Zimmer nach dem Schmuck durchsuchen. Zak, Raoul, Pierre und Mavis gehen ab.«
Sie nickten.
«Bleiben also«, sagte ich,»Donna, Walter Bricknell und Giles noch im Salon. Donna und Walter streiten sich wieder wegen Pierre, Donna unterdrückt ein paar Tränen, und dann kommt Giles aus dem Publikum, um Donna beizuspringen, und sagt, sie hat etwas Schlimmes erlebt, seiner Meinung nach sollten sich jetzt alle mal ein bißchen vertragen.«
Giles sagte:»Gut, okay. Auf geht’s.«
«Dann«, sagte ich,»kommen Zak und die anderen zurück. Sie haben den Schmuck nicht gefunden. Giles fängt an, auch Mavis zu trösten. Mavis sagt, sie hat nur für ihre Schmucksammlung gelebt, jedes einzelne Stück davon hat sie geliebt. Sie ist außer sich. Das zeigt sie auch.«
«Herrlich«, sagte Mavis.
«Walter«, fuhr ich fort,»sagt, er kann Schmuck nichts abgewinnen. Sein Schmuck sind seine Pferde. Er lebt nur für seine Pferde. Er setzt noch eins drauf und sagt, wenn er nicht zum Pferderennen gehen und seine Pferde laufen sehen könnte, wäre er lieber tot. Er würde sich umbringen, wenn er keine Pferde haben könnte.«
Walter runzelte die Stirn, nickte aber eifrig. Er hatte bisher keine besondere Rolle gespielt; jetzt bekam auch er eine große Szene, so schwierig es sein mochte, sie überzeugend zu bringen.
«Dann sagt Walter, daß Raoul ihm die Freude an seinen Pferden vergällt und allen die Reise vermiest, und kündigt ihm offiziell als seinem Trainer. Raoul protestiert und sagt, er hat den Rausschmiß nicht verdient. Walter sagt, daß Raoul wahrscheinlich ein Mörder und ein Juwelendieb ist und ihn mit seinen Pferden hereingelegt hat. Rasend geht Raoul auf Walter los. Zak reißt ihn zurück und bittet alle, sich zu beruhigen. Er sagt, er wird die Durchsuchung sämtlicher Zimmer veranlassen, damit der Schmuck sich vielleicht doch noch findet, und er wird den Hoteldetektiv hinzuziehen und nötigenfalls die Polizei einschalten. Alle machen ein Gesicht, als ob sie die Polizei nicht dabeihaben wollen. Ende der Szene.«
Ich wartete auf ihre kritischen Einwände und Änderungsvorschläge, doch es kamen nur sehr wenige. Ich gab meinen Entwurf Zak, der ihn mit den betreffenden Schauspielern Schritt für Schritt noch einmal durchging, und alle begannen leise vor sich hm zu sprechen, während sie sich ihren Text ausdachten.
«Und was passiert morgen?«fragte Zak schließlich.»Wie lösen wir das Ganze?«
«Das hab ich noch nicht zu Papier gebracht«, sagte ich.
«Aber Sie haben’s im Kopf? Könnten Sie es heute abend schreiben?«
Ich nickte zweimal.
«Gut«, sagte er.»Am besten treffen wir uns morgen nach dem Frühstück alle wieder hier. Wir werden gründlich proben müssen, vielleicht zwei oder auch drei Durchläufe, um sicherzugehen, daß alles sitzt. Die losen Fäden verknüpfen und ähnliches. Denkt auch alle dran, daß wir morgen wieder im Speisewagen sind. Wenig Platz für Raufereien und so weiter, also packt heute abend die volle Action rein.«
«Morgen wird auf Pierre geschossen«, sagte ich.
«Ach du Schreck«, sagte Pierre.
«Aber es ist nicht tödlich. Sie können weiterreden.«
«Noch besser.«
«Allerdings werden Sie etwas Blut brauchen.«
«Prima«, sagte Pierre.»Wieviel?«
«Tja…«Ich lachte.»Ich überlasse es Ihrer Entscheidung, wo die Kugel hingeht und welche Mengen Blut man den Reisenden zumuten kann, nur ist es gut, wenn Sie hinterher noch am Leben sind.«
Sie wollten wissen, was ich sonst noch auf Lager hatte, doch das mochte ich ihnen nicht erzählen. Wüßten sie erst Bescheid, sagte ich, würden sie sich vielleicht verplappern, und sie wandten ein, dafür seien sie viel zu professionell. Aber ich traute ihren improvisierenden Zungen nicht so ganz, und sie zuckten die Achseln und gaben bereitwillig nach.
Ich sah mir die Probe an, die recht gut zu laufen schien, doch sie war gar nichts, versicherte Zak mir hinterher, gegen die Live-Vorstellung zur Cocktailstunde.
Er kam wie am vorhergehenden Abend wieder um elf in mein Zimmer und trank erschöpft den wohlverdienten Whisky.
«Die zwei da, Raoul und Pierre, die haben sich wirklich rangeschmissen«, sagte er.»Sie haben beide nämlich auf der Schauspielschule Bühnenkampf und Schaunummern gelernt. Sie hatten die Prügelszene vorher ausgearbeitet, und es ging unheimlich rund. Durch die ganze Örtlichkeit. Ein Jammer, das abzubrechen. Die Hälfte der Passagiere hat ihre Getränke verschüttet, als Raoul und Pierre sich vor ihren Füßen am Boden gewälzt und verdroschen haben, und wir mußten allen gratis nachschenken. «Er lachte.
«Die gute Mavis hat einen auf große Tragödie gemacht, als sie von dem Schmuckdiebstahl berichtete, und später noch gewaltig auf die Tränendrüsen gedrückt, weil doch all die schönen Erinnerungen, die sie mit dem Schmuck verband, jetzt auch verblassen würden. Brachte das halbe Publikum zum Weinen. Fabelhaft. Dann kriegte auch Walter seinen Auftritt ganz gut hin, wenn man bedenkt, daß er sich bei mir beklagt hat, kein halbwegs normaler Mensch würde sich umbringen, bloß weil er keine Pferde hat, die an Rennen teilnehmen können. Und hinterher, stellen Sie sich vor, fragte mich einer von den Fahrgästen, wo wir das herhätten, daß einer sich umbringt, weil er keine Pferde laufen lassen kann.«