Aus der Gruppe heraus, die das Begleitpersonal mit Emil, Oliver, Cathy, Angus, Simone, dem Barmann und den Schlafwagenstewards bildete, beobachtete ich, wie Filmer und die meisten anderen Fahrgäste aus dem Bus stiegen und sich vergewisserten, daß ihr Gepäck in der Reihe stand. Die Lorrimores, die gesondert mit ihrem Chauffeur eintrafen, brachten ihre Koffer mit, und der Chauffeur stapelte sie etwas abseits zu einem kleinen Block.
Ein Güterzug rumpelte vorüber, scheinbar endlos. Einhundertundzwei Getreidewagen, sagte Cathy zählend. Eine ganze Menge Brot.
Ich dachte an Mrs. Baudelaire, mit der ich kurz vor dem Verlassen des Chateaus gesprochen hatte.
«Bill läßt Ihnen ausrichten«, sagte sie,»daß Lenny der kalte Schweiß ausgebrochen ist und man sich jetzt seiner annimmt und daß mit der telefonischen Zustimmung seines Trainers ein neuer Pfleger für Laurentide Ice engagiert worden ist. Sie sagten dem Trainer, Lenny Higgs sei ausgebüxt. Bill hat Winnipeg verlassen und ist wieder in Toronto. Er sagt, er hat mit dem Oberst Rücksprache genommen, weil die Sache eilt, und sie sind übereingekommen, daß Bill so bald wie möglich mit Mrs. Daffodil Quentin sprechen wird. Ergibt das alles einen Sinn?«
«Und ob«, sagte ich inbrünstig.
«Dann ist es gut.«
«Kommt Bill noch nach Vancouver?«fragte ich.
«O ja, ich denke schon. Montag abend, glaube ich, rechtzeitig für das Rennen am Dienstag. Er sagte, am Mittwoch werde er wieder hier sein. Diese ganzen Zeitverschiebungen können niemandem guttun.«
«Kanada ist so riesig.«
«Fünftausendfünfhundertundvierzehn Kilometer von Küste zu Küste«, sagte sie schulmeisterlich.
Ich lachte.»Hätten Sie das auch in Meilen?«
«Das müssen Sie schon selbst ausrechnen, junger Mann.«
Ich tat es später, aus Neugierde: dreitausendvierhundertsechsundzwanzigundemviertel Meilen.
Sie wollte wissen, ob ich sonst noch Fragen hätte, aber mir fielen keine ein, und ich sagte, ich würde sie am Morgen von Vancouver aus wieder anrufen.
«Schlafen Sie gut«, sagte sie fröhlich.
«Sie auch.«
«Ja. «Zurückhaltung lag in ihrer Stimme, und mir wurde klar, daß sie wahrscheinlich nie gut schlief.
«Oder träumen Sie schön«, sagte ich.
«Sehr viel einfacher. Gute Nacht.«
Wie gewohnt ließ sie mir keine Zeit zu antworten.
Der Zug pfiff in der Ferne: einer der unwiderstehlichsten, verlockendsten Rufe für einen Wanderer. Dies und das hohle, kehlige Dröhnen ablegender Schiffe. Wenn ich irgend süchtig war, dann nach dem Aufbrechen, nicht nach dem Ankommen.
Die Scheinwerfer aufgeblendet in der stärker werdenden Nachmittagssonne, fuhr die große gelbnasige Lok mit gedämpftem Donnern in den Bahnhof ein, und einer der
Lokführer schaute im Vorbeifahren aus seinem offenen Fenster auf uns herunter. Die Lokführer waren das einzige Personal, das nicht den ganzen Weg von Toronto mitgekommen war, denn jeder Streckenabschnitt hatte seine eigenen Spezialisten.
Da es in Lake Louise keine Abstellgleise gab, war der verkürzte Zug, der uns dorthin gebracht hatte, für die zwei Bergtage nach Banff zurückgekehrt, begleitet von George als Aufsichtsführendem. Jetzt kam George mit dem gesamten Zug wieder; seine fröhliche, rundliche Gestalt kletterte auf den Bahnsteig hinaus und begrüßte die Fahrgäste wie langvermißte Freunde.
In sichtlich gehobener Stimmung und neu erwachter Freude kehrte die ganze Gesellschaft in ihre vertrauten Quartiere zurück; die Lorrimores, ein bedrücktes Quartett, das die private, mit einem Geländer versehene Eingangsplattform am Schluß des Ganzen bestieg, waren die einzige traurige Note. Nell lief zu ihnen, um mit ihnen zu sprechen, sie vielleicht aufzuheitern. Mercer blieb stehen, antwortete, lächelte — die anderen gingen einfach hinein. Wozu sich um sie bemühen? dachte ich. Man bekam keinen Dank dafür. Und doch würde man sich immer um Mercer, den blinden Heiligen, bemühen.
Filmer stieg durch die offene Tür am Ende seines Schlafwagens ein, und durch das Fenster sah ich ihn in seinem Abteil herumgehen. Jacken aufhängen. Sich die Hände waschen. Alltägliche Dinge. Wie kam es, fragte ich mich, daß ein Mensch gut war und ein anderer schlecht; daß der eine danach strebte, etwas aufzubauen, der andere, zu ängstigen und zu zerstören? Die bittere Ironie dabei war, daß der Schlechte vielleicht mehr Befriedigung und Erfüllung empfand als der Gute.
Ich ging zu dem Wagen, in dem mein Abteil lag, lud meine Tasche ab und zog den Regenmantel aus, unter dem die vertraute Livree zum Vorschein kam. Nur noch eine Nacht als Tommy. Ein Abendessen, ein Frühstück. Schade, dachte ich. Ich hatte ihn recht liebgewonnen.
George schwang sich an Bord, als der Zug auf seine ruhige Art losfuhr, und begrüßte mich mit einem freudigen kleinen Lachen.
«Wir haben Glück, daß der Zug beheizt ist, eh?«sagte er.»Wieso?«sagte ich.»Es ist doch sehr warm.«
«Sie konnten den Kessel nicht ankriegen. «Er schien das sehr lustig zu finden.»Wissen Sie, warum?«
Ich schüttelte den Kopf.
«Kein Heizöl.«
Ich sah verständnislos drein.»Nun… dann konnten sie doch sicher auftanken.«
«Das will ich meinen«, sagte er.»Nur daß der Tank vor zwei Tagen erst gefüllt worden ist, als wir runter nach Banff sind. Jedenfalls sollte er gefüllt werden. Also haben wir nachgesehen, und es tropfte ein bißchen aus dem Ablaß, einer Schraube, die nur selten, nämlich zum Durchspülen des Tanks, geöffnet wird, eh?«
Er sah mich erwartungsvoll an, seine Augen glänzten.
«Jemand hat das Öl gestohlen?«
Er lachte leise.»Entweder aus dem Tank gezapft oder es gar nicht erst reingefüllt und zur Irreführung die Schraube geöffnet.«
«War viel Öl auf dem Boden?«fragte ich.
«Kein schlechter Detektiv, was? Ja, ziemlich viel.«
«Was meinen Sie also?«
«Ich glaube, sie haben nicht richtig vollgetankt, wahrscheinlich nur gerade so viel, daß wir ein gutes Stück aus Lake Louise rauskommen, dann haben sie den Ablaß ein bißchen aufgedreht, um uns weiszumachen, das Öl sei durch ein Versehen unterwegs ausgelaufen, eh? Nur haben sie das falsch angestellt, die Schraube zu weit geöffnet. «Das Lachen vibrierte in seiner Kehle.»Was für ein Theater, eh? wenn der Zug in den Bergen ausgekühlt wäre! Die Pferde hätten gefroren. Was für eine Panik!«
«Sie scheinen nicht allzu beunruhigt zu sein.«
«Es ist ja nicht passiert, oder?«
«Nein, da haben Sie recht.«
«Wir hätten den Tank in Revelstoke sowieso wieder aufgefüllt«, sagte er.»Es hätte Ihnen Ihr Galabankett verdorben, eh?
Aber gestorben wäre niemand. Fraglich, ob sie auch nur Erfrierungen bekommen hätten, im Januar wäre es anders gewesen. Nach Sonnenuntergang sinkt die Lufttemperatur hier oben zwar schnell unter Null, aber die Strecke läuft durchs Tal, nicht auf die Gipfel hoch, eh? Und die Windkälte würde in den Wagen keine Rolle spielen.«
«Trotzdem sehr unangenehm.«
«Sehr. «Seine Augen glitzerten.»Wie ein Wespennest habe ich die in Banff aufge scheucht, damit sie rausfinden, wer es getan hat.«
Ich war nicht so unbekümmert wie er. Ich sagte:»Kann mit diesem Zug sonst noch etwas schiefgehen? Ist zum Beispiel überhaupt Wasser im Kessel?«
«Keine Sorge«, sagte er beruhigend.»Wir haben das Wasser kontrolliert. Es lief aus dem obersten Hahn. Dieser Tank ist so voll wie er sein soll.«
«Was ist mit den Maschinen?«
«Wir sind alles zentimeterweise durchgegangen, eh? Aber es war bloß irgendein schäbiger, hundsgewöhnlicher Gauner, der das Öl geklaut hat.«
«Wie der hundsgewöhnliche Gauner, der den Wagen der Lorrimores abgekoppelt hat?«
Er dachte skeptisch darüber nach.»Ich gebe ja zu, daß gerade dieser Zug Psychopathen anziehen könnte, weil das Aufsehen in der Öffentlichkeit so groß wäre und ganz nach ihrem
Geschmack, aber es besteht kein ersichtlicher Zusammenhang zwischen den beiden Sachen. «Er lachte leise.»Die Leute stehlen doch alles, nicht bloß Öl. Einmal hat jemand acht von den blauen Ledersitzen im Speisewagen geklaut. Der stand damals unbenutzt auf einem Abstellgleis in Mimico, Toronto, und irgendwer kam mit einem Transporter an, auf dem >Möbelreparaturen< zu lesen war, fuhr an den Speisewagen ran und nahm kurzerhand acht einwandfreie Sitze mit, eh? Sie wurden nie wieder gesehen.«