Es gelang mir, neben Nell zu landen.
«Xanthe sehnt sich nach ein bißchen Vergnügen«, sagte ich.
«Könnten Sie sie nicht loseisen?«
«Was haben denn die anderen?«fragte sie stirnrunzelnd.
«Vielleicht sagt Xanthe es Ihnen, wenn sie’s weiß.«
Nell warf mir einen durchdringenden Blick zu.»Und Sie möchten, daß ich es dann Ihnen erzähle?«
«Da Sie schon fragen, ja, bitte.«
«Eines Tages werden Sie mir das alles erklären.«
«Eines gar nicht fernen Tages.«
Ich ging mit den anderen in die Küche zurück, um die Berge von Geschirr in Angriff zu nehmen und etwas von den spärlichen Resten zu essen. Angus holte eine Flasche Scotch aus einem Schrank und trank sich daran satt, ohne ein Glas zu bemühen. Abgesehen von Simone, die vollends verschwunden war, herrschte sehr gute Stimmung in der Küche. Nicht um alles in der Welt dachte ich, hätte ich das missen mögen.
Als alles geschrubbt, poliert und weggeräumt war, ließen wir Angus allein, der unglaublicherweise anfing, Brot fürs Frühstück zu backen. Ich stand noch eine Weile im Vorraum und sah zu, wie sich der Speisewagen langsam leerte, da alles zu Gelächter und Musik in den Aussichtswagen driftete. Die Lorrimores waren fort und ebenso Nell und die Unwins und die Youngs. Aus Gewohnheit begann ich mit Oliver die gebrauchten Servietten und Tischtücher einzusammeln, um frische für das Frühstück aufzulegen, und bald kam Nell dann wieder und setzte sich müde dorthin, wo ich arbeitete.
«Soviel ich rauskriegen konnte«, sagte sie,»weiß Xanthe nicht, was ihre Eltern so in Aufregung versetzt hat. Sie meint, es kann wohl nicht an etwas liegen, was Mr. Filmer vor dem Cocktail im Gesellschaftsraum gesagt hat, weil das so albern klang.«
«Hat sie Ihnen erzählt, was er gesagt hat?«
Nell nickte.»Xanthe sagte, Mr. Filmer habe ihren Vater gefragt, ob er ihm Voting Right verkaufe, und ihr Vater habe geantwortet, er würde sich um keinen Preis von dem Pferd trennen, und sie hätten beide gelächelt. Dann sagte Mr. Filmer, immer noch lächelnd: >Wir werden uns ein bißchen über Katzen unterhalten müssenc, und das war alles. Mr. Filmer ging in den Speisewagen. Xanthe sagt, sie hat ihren Vater gefragt, was Mr. Filmer damit meinte, und er hat geantwortet: >Laß mich zufrieden, Schatz.««
Nell schüttelte verwundert den Kopf.»Na, jedenfalls amüsiert Xanthe sich jetzt im Gesellschaftsraum des Aussichtswagens, und der Rest der Familie hat sich in ihren Privatwagen verzogen, und ich bin hundemüde, falls es Sie interessiert.«
«Dann gehen Sie doch schlafen.«
«Die Schauspieler sind auch alle im Gesellschaftsraum und lassen sich fotografieren«, sagte sie und tat meinen Vorschlag als nicht ernst zu nehmend ab.»Die waren astrein heute abend, was?«
«Ausgezeichnet«, sagte ich.
«Irgend jemand fragte Zak, wer auf dem Bahnhof Toronto welches Pferd zu entführen versucht habe.«
«Was hat er geantwortet?«fragte ich belustigt. Es war der loseste der unverknüpften Fäden.
«Er sagte, damals schien das eine gute Idee zu sein. «Sie lachte.
«Er sagte, sie hätten das Manuskript ändern müssen, weil der Darsteller, der den Kidnapperpart spielen sollte, sich den Arm brach und nicht auftreten konnte. Alle waren damit zufrieden.
Der Ausgang hat sie sehr überzeugt. Die Leute küssen Donna und Mavis. Mavis trägt den Schmuck. «Sie gähnte und überlegte.
«Mr. Filmer hat gar nichts zu Abend gegessen, oder? Vielleicht ist es besser, ich schaue mal nach ihm.«
Davon brachte ich sie ab. Antazida regelten das schon, sagte ich. Was man einem Menschen für die kranke Seele geben konnte, war eine andere Frage.
Von seinem Standpunkt aus hatte er eine Spur zu früh gehandelt, dachte ich. Hätte er die Drohung nicht schon ausgesprochen gehabt, würde das Stück nicht so verheerend auf ihn oder auf Mercer gewirkt haben. Mercer wäre vielleicht gewarnt worden, wie ich es beabsichtigt hatte; wäre vielleicht zum Nachdenken veranlaßt worden. Aber ich hatte nicht voraussehen können, daß es so kommen würde, wie es gekommen war, wenngleich Filmers Grinsen und Mercers Trübsinn mich stutzig gemacht hatten. Vielleicht war es auch ganz gut, daß ich nichts von den Katzen gewußt hatte, als ich den Schmuckdieb stahl erfand. Ich hätte schrecklich in Versuchung geraten können, es noch genauer zu treffen. Gequälte Pferde vielleicht?
«Was brüten Sie denn jetzt wieder aus?«wollte Nell wissen.
«Sie haben so einen entrückten Blick.«
«Ich bin ganz unschuldig«, sagte ich.
«Da bin ich mir nicht so sicher. «Sie stand auf. Zu Ehren des Banketts trug sie eine ausgeschnittene schwarze Bluse über dem weiten schwarzen Rock und ein enges Perlenhalsband. Ihr blondes Haar war mit einem Kamm hochgesteckt, aber nicht geflochten, sondern fiel in losen Locken herab. Ich dachte mit beunruhigender Heftigkeit, daß ich sie nicht verlieren wollte, und daß es für mich kein Spiel mehr war. Ich kannte sie gerade eine Woche und einen Tag. Mein Verstand sagte, das sei nicht lange genug. Mein Instinkt widersprach ihm.
«Wo steigen Sie in Vancouver ab?«fragte ich.
«Im Four Seasons Hotel, wo auch die Passagiere sein werden.«
Sie schenkte mir ein kleines Lächeln und ging in Richtung des Trubels davon. Oliver war mit dem Abziehen der Tischtücher fertig und legte neue auf, um die Stätte ordentlich zu hinterlassen, wie er sagte. Ich überließ ihm das und machte mich auf den Weg nach vorn, um mit George Burley zu sprechen, wobei ich an Filmers geschlossener Tür vorüberkam.
Der Schlafwagensteward saß bei offener Tür in seinem Einbettabteil. Ich steckte den Kopf rein und fragte, wie es dem Fahrgast gehe, der nach dem Antazidum gefragt hatte.
«Er ging vor einer Weile nach vorn und kam wieder zurück. Er hat nichts gesagt, ist bloß vorbeigelaufen. Es geht ihm sicher wieder gut.«
Ich nickte und ging weiter und kam zu George, der am Tisch saß und mit seinen ewigen Formularen beschäftigt war.
«Kommen Sie rein«, sagte er, und ich nahm meinen gewohnten Platz ein.»Ich habe das Foto herumgezeigt«, fuhr er fort.»Wollten Sie sich danach erkundigen?«
«Ja.«
«Er ist definitiv im Zug. Laut Passagierliste heißt er Johnson. Er hat ganz vorne ein Einbettabteil, und da hält er sich meistens auf. Er ißt im Speiseraum des vorderen Aussichtswagens, aber nur zu Abend, eh? Da saß er gerade eben, als ich zur Lok gegangen bin, aber als ich wiederkam, war er schon weg. Ein Schnellesser, wie es heißt. Kommt nie zum Frühstück oder zum Lunch. Unterhält sich mit keinem, eh?«
«Das gefällt mir nicht«, sagte ich.
George lachte leise.»Das Schlimmste kommt erst noch.«
«Was ist das Schlimmste?«
«Mein Stellvertreter — das ist einer von den
Schlafwagenstewards im vorderen Teil — sagt, er hat ihn schon mal gesehen, eh?«
«Und wo?«
George beobachtete mich gespannt.»Bei der Bahn.«
«Bei der — wollen Sie damit sagen, das ist ein Eisenbahner?«
«Hundertprozentig weiß er’s nicht. Er sagt, er sieht aus wie ein Gepäckarbeiter, mit dem er vor langer Zeit mal auf der Strecke Toronto-Montreal zu tun hatte. Vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Er sagt, wenn er das ist, dann war er streitbar wie ein Zinshahn, keiner mochte ihn. Er konnte gewalttätig werden. Man legte sich nicht mit ihm an. Vielleicht ist er es aber auch nicht. Er ist älter. Und er erinnert sich nicht an den Namen Johnson, der allerdings so häufig ist, daß man ihn wahrscheinlich leicht vergißt.«
«Wüßte ein Gepäckarbeiter«, sagte ich langsam,»wie man einen Öltank leerlaufen läßt… und den Wagen der Lorrimores abkuppelt?«
Georges Augen glitzerten vor Vergnügen.»Die Gepäckarbeiter fahren in den Zügen mit, eh? Es sind keine Dummköpfe. Sie laden an den Halts kleine Frachtgüter auf und sehen zu, daß das richtige Zeug ausgeladen wird. Wenn man auf Zügen lebt, lernt man auch, wie sie funktionieren.«