Sie machten in all den Jahren nicht einmal einen Mordanschlag auf Stresemann, obwohl es leicht gewesen wäre. Denn er hatte keine Leibwache und er verschanzte sich nicht. Öfters sahen wir ihn Unter den Linden spazierengehen, einen unauffälligen, untersetzten Mann mit einem Derby–Hut. »Ist das nicht Stresemann da drüben?« fragte einer, und richtig, er war es. Man sah ihn etwa am Pariser Platz vor einem Blumenbeet stehen, eine Blume mit dem Spazierstock anheben und gedankenvoll mit seinen vorquellenden Augen betrachten. Vielleicht sann er nach, welches ihr botanischer Name war.
Seltsam: Hitler, heutzutage, zeigt sich nur im Auto, in raschem Tempo, umgeben von zehn oder zwölf Autos mit schwer bewaffneter SS. Wahrscheinlich tut er auch gut daran. Rathenau, 1922, verzichtete auf bewaffnete Begleitung und wurde dann auch prompt ermordet. Aber Stresemann, in der Zwischenzeit, konnte unbewaffnet und unbegleitet am Pariser Platz Blumen betrachten.
Vielleicht war er doch ein Zauberer, der breite, unauffällige, unschöne, unpopuläre Mann mit dem Stiernacken und den vorquellenden Augen. Oder war es gerade nur seine Unpopularität und Unauffälligkeit, was ihn schützte?
Wir folgten ihm von weitem mit den Augen, wie er, langsam und gedankenvoll schlendernd, von den Linden zur Wilhelmstraße einbog – viele erkannten und beachteten ihn nicht einmal; andere grüßten ihn, und er grüßte höflich und zivil wieder, durch Hutabnehmen, nicht etwa durch Armausstrecken, und einzeln, nicht massenweise – und wir fragten uns, ob er wohl »klug« sei. Und wie auch die Antwort ausfiel, wir fühlten ein stilles Vertrauen und eine respektvolle Dankbarkeit für den Unauffälligen. Mehr kaum. Er war nicht der Mann, heiße Gefühle zu entzünden.
Das stärkste Gefühl erregte er durch seinen Tod: einen plötzlichen kalten Schreck. Er war lange leidend gewesen, aber man wußte nicht, wie sehr. Freilich, später erinnerte man sich: Das letzte Mal, vor vier Wochen Unter den Linden, hatte er bleicher und aufgeschwemmter als gewöhnlich ausgesehen. Aber er war so unauffällig. Man hatte es nicht besonders bemerkt. Er starb auch überaus unauffällig: nach einem anstrengenden Tage, abends, während er sich wie jeder schlichteste Bürger vor dem Zubettgehen die Zähne putzte. Auf einmal taumelte er, so las man später, das Mundwasserglas fiel ihm aus der Hand ... Am nächsten Tag hatten die Zeitungen die Überschrift: Stresemann ist.
Und wir, die es lasen, empfanden einen eisigen Schreck. Wer sollte jetzt die Bestien bändigen?
Gerade hatten sie begonnen, sich zu rühren, mit einem unglaubwürdig–tollen »Volksbegehren«, dem ersten seiner Art: Alle Minister, die weiterhin Verträge »auf der Grundlage der Kriegsschuldlüge«
abschlossen, sollten mit Zuchthaus bestraft werden. Es war so etwas für die Dummen. Plakate und Umzüge, Massenversammlungen, Märsche, hier und da eine Schießerei. Die Friedenszeit ging zu Ende. Solange Stresemann da war, hatte man es noch nicht so recht geglaubt. Jetzt auf einmal wußte man es.
Oktober 1929. Böser Herbst nach einem schönen Sommer, Regen und rauhes Wetter, und
obendrein in der Luft etwas Drückendes, das nicht vom Wetter herrührte. Böse Worte an den Anschlagsäulen; auf den Straßen, zum ersten Mal, kotbraune Uniformen und unerfreuliche Gesichter darüber; das Rattern und Pfeifen einer ungewohnten, schrill–ordinären Marschmusik. In den Ämtern Verlegenheit, im Reichstag Lärmszenen, die Zeitungen voll von einer schleichenden, nicht endenden Regierungskrise. Es war alles trüb bekannt; es roch nach 1919 oder 20. War nicht auch der arme Hermann Müller Reichskanzler, der es damals schon gewesen war? Solange Stresemann
Außenminister gewesen war, hatte man nicht viel nach dem Reichskanzler gefragt. Sein Tod war der Anfang vom Ende.
14
Im Frühjahr 1930 wurde Brüning Reichskanzler, und zum ersten Mal, seit wir denken konnten, hatte Deutschland einen strengen Herrn. Von 14 bis 23 waren alle Regierungen schwächlich gewesen.
Stresemann hatte sehr geschickt und durchgreifend regiert, aber mit weicher Hand, ohne irgend jemand wehzutun. Brüning tat ständig sehr vielen Leuten weh, es war sein Stil, und er war mit einem gewissen Stolz »unpopulär«. Ein harter, knochiger Mann, der mit streng zusammengekniffenen Augen durch eine randlose Brille blickte. Alles Verbindliche und Abrundende war seiner Natur entgegen. Seine Erfolge – unbestreitbar erzielte er einige – hatten durchweg das Schema »Operation gelungen, Patient tot« oder »Stellung gehalten, Mannschaft aufgerieben«. Um die
Reparationszahlungen ad absurdum zu führen, ließ er es zu, daß die deutsche Wirtschaft fast zu Bruch ging, die Banken schlossen, die Arbeitslosenziffer auf 6 Millionen stieg. Um den Staatshaushalt bei all dem in Ordnung zu halten, wandte er eisern und grimmig das Rezept des strengen Hausvaters an: »den Gürtel enger schnallen«. In regelmäßiger Folge, etwa jedes halbe Jahr, kam eine »Notverordnung« heraus, die die Gehälter, Pensionen, sozialen Wohlfahrtsleistungen, schließlich sogar die privaten Löhne und Zinsen heruntersetzte und wieder heruntersetzte. Eins erzwang das andere, und mit zusammengebissenen Zähnen zog Brüning jede schmerzhafte
Konsequenz. Manches von dem, was später zu Hitlers effektvollsten Folterinstrumenten gehören sollte, wurde von Brüning eingeführt: die »Devisenbewirtschaftung«, die die Auslandsreisen, die
»Reichsfluchtsteuer«, die die Auswanderung unmöglich machte; sogar die Beschränkung der Pressefreiheit und die Knebelung des Parlaments gehen, in den Anfängen, auf ihn zurück. Dabei tat er das alles, paradox genug, im tiefsten Grunde zur Verteidigung der Republik. Aber die Republikaner begannen sich begreiflicherweise allmählich zu fragen, was ihnen nach alledem eigentlich noch zu verteidigen blieb.
Meines Wissens ist das Brüningregime die erste Studie und, sozusagen, das Modell gewesen zu einer Regierungsart, die seither in vielen Ländern Europas Nachahmung gefunden hat: Der Semi–
Diktatur im Namen der Demokratie und zur Abwehr der echten Diktatur. Wer sich der Mühe unterziehen würde, die Regierungszeit Brünings eingehend zu studieren, würde hier schon alle die Elemente vorgebildet finden, die diese Regierungsweise im Effekt fast unentrinnbar zur Vorschule dessen machen, was sie eigentlich bekämpfen solclass="underline" die Entmutigung der eigenen Anhänger; die Aushöhlung der eigenen Position; die Gewöhnung an Unfreiheit; die ideelle Wehrlosigkeit gegen die feindliche Propaganda; die Abgabe der Initiative an den Gegner; und schließlich das Versagen in dem Augenblick, wo alles sich zu einer nackten Machtfrage zuspitzt.
Brüning hatte keine wirkliche Gefolgschaft. Er wurde »toleriert«. Er war das kleinere Übeclass="underline" der strenge Schullehrer, der die Züchtigung seiner Schüler mit dem Spruch begleitet: »Es tut mir mehr weh als euch« – gegen den hochsadistischen Foltermeister. Man deckte Brüning, weil er der einzige Schutz gegen Hitler zu sein schien. Da er dies natürlich wußte, durfte er Hitler, von dessen Bekämpfung –
und somit: von dessen Existenz – er politisch lebte, auf keinen Fall vernichten. Er mußte Hitler zwar bekämpfen, aber zugleich erhalten. Hitler durfte nicht wirklich zur Macht kommen, mußte aber immer gefährlich bleiben. Ein schwieriger Balanceakt! Brüning hielt ihn, mit Pokerface und zusammengebissenen Zähnen, zwei Jahre lang durch, und schon das war eine große Leistung. Der Augenblick, in dem er aus dem Gleichgewicht kommen mußte, konnte unmöglich ausbleiben. Was dann? Hinter der ganzen Brüningzeitstand die Frage: Was dann? Es war eine Zeit, in der eine trübe Gegenwart nur durch die Aussicht auf eine grauenvolle Zukunft gemildert wurde.