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Wie gesagt, die wissenschaftlich–pragmatische Geschichtsdarstellung sagt über diesen Intensitätsunterschied des Geschichtsgeschehens nichts. Wer etwas darüber erfahren will, muß Biographien lesen, und zwar nicht die Biographien von Staatsmännern, sondern die viel zu raren Biographien der unbekannten Privatleute. Dort wird er sehen: Das eine »historische Ereignis« zieht über das private – d. h. wirkliche – Leben hin wie eine Wolke über einen See; nichts regt sich, nur ein flüchtiges Bild spiegelt sich. Das andere peitscht den See auf wie Sturm und Gewitter; man erkennt ihn kaum mehr wieder. Das dritte besteht vielleicht darin, daß alle Seen ausgetrocknet werden.

Ich glaube, Geschichte wird falsch verstanden, wenn man diese ihre Dimension vergißt (und sie wird fast immer vergessen). Man lasse mich daher einmal, zum Spaß, 20 Jahre deutsche Geschichte aus meiner Perspektive erzählen, ehe ich zum eigentlichen Thema komme: Geschichte Deutschlands als Teil meiner privaten Lebensgeschichte. Es wird ganz schnell gehen, und es wird das Verständnis für alles folgende erleichtern. Außerdem werden wir uns dabei ein wenig näher kennenlernen.

3

Der Ausbruch des vorigen Weltkrieges, mit dem mein bewußtes Leben wie mit einem Paukenschlag einsetzt, traf mich, wie er die meisten Europäer traf: in den Sommerferien. Um es gleich zu sagen: Die Zerstörung dieser Ferien war das Ärgste, was mir der ganze Krieg persönlich antat.

Mit welcher gnädigen Plötzlichkeit der vorige Krieg ausbrach, wenn man es mit dem marternd langsamen Näherrücken des jetzt kommenden vergleicht! Am 1. August 1914 hatten wir noch gerade beschlossen, das Ganze nicht ernstzunehmen und in unserer Sommerfrische zu bleiben. Wir saßen auf einem Gut in Hinterpommern, sehr weltverloren, zwischen Wäldern, die ich, ein kleiner Schuljunge, kannte und liebte wie nichts anderes auf der Welt. Die Rückkehr aus diesen Wäldern in die Stadt, alljährlich Mitte August, war das traurigste, unerträglichste Ereignis des Jahres für mich, vergleichbar nur noch etwa dem Plündern und Verbrennen des Weihnachtsbaums nach dem

Neujahrsfest. Am 1. August lag es noch um zwei Wochen fern – eine Unendlichkeit.

In den Tagen zuvor freilich war einiges Beunruhigendes geschehen. Die Zeitung hatte etwas, was sie nie gehabt hatte: Überschriften. Mein Vater las sie länger als sonst, hatte ein besorgtes Gesicht dabei und schalt auf die Österreicher, wenn er sie ausgelesen hatte. Einmal hieß die Überschrift:

»Krieg!« Ich hörte ständig neue Worte, deren Bedeutung ich nicht kannte und mir umständlich erklären lassen mußte: »Ultimatum«; »Mobilmachung«; »Allianz«; »die Entente«. Ein Major, der auf demselben Gut wohnte und mit dessen beiden Töchtern ich auf Neck– und Kriegsfuß stand, bekam plötzlich eine »Order«, auch so ein neues Wort, und reiste Hals über Kopf ab. Auch einer der Söhne unseres Wirts wurde eingezogen. Alle liefen ein Stück hinterher, als er im Jagdwagen zur Bahn fuhr, und riefen »Sei tapfer!«, »Bleib heil und gesund!«, »Komm bald wieder!« Einer rief: »Hau die Serben!«, worauf ich, eingedenk dessen, was mein Vater nach der Zeitungslektüre zu äußern pflegte, rief: »Und die Österreicher!« Ich war sehr erstaunt, daß alle plötzlich lachten.

Stärker als alles dies traf es mich, als ich hörte, daß auch die schönsten Pferde auf dem Gut,

»Hanns« und »Wachtel«, wegkommen sollten, und zwar weil sie, welche Menge von

erklärungsbedürftigen Erklärungen!, zur »Kavalleriereserve« gehörten. Die Pferde liebte ich jedes einzeln, und daß die zwei schönsten plötzlich weg sollten, gab mir einen Stich ins Herz.

Aber das Ärgste von allem war, daß zwischendrein auch immer wieder das Wort »Abreise« fiel.

»Vielleicht müssen wir morgen schon abreisen.« Das klang für mich genau so, als ob man gesagt hätte: »Vielleicht müssen wir morgen schon sterben.« Morgen – anstatt nach einer Unendlichkeit von zwei Wochen!

Damals gab es bekanntlich noch kein Radio, und die Zeitung kam mit 24 Stunden Verspätung in unsere Wälder. Es stand übrigens auch weit weniger darin, als heute in den Zeitungen zu stehen pflegt. Die Diplomaten waren damals noch viel diskreter als heute... Und so konnte es geschehen, daß wir gerade am 1. August 1914 beschlossen, daß der Krieg gar nicht stattfinden würde und daß wir bleiben würden, wo wir waren.

Nie werde ich diesen 1. August 1914 vergessen, und immer wird die Erinnerung an diesen Tag ein tiefes Gefühl von Beruhigung, von gelöster Spannung, von »Alles wieder gut« mit heraufbringen. So seltsam kann das »Geschichte–Miterleben« vor sich gehen.

Es war ein Sonnabend, mit all der wundervollen Friedlichkeit, die ein Sonnabend auf dem Lande haben kann. Die Arbeit war vorbei, Geläute heimkehrender Herden in der Luft, Ordnung und Stille über dem ganzen Gutshof, die Knechte und Mägde putzten sich in ihren Kammern für irgendein abendliches Tanzvergnügen. Unten aber in der Halle mit den Hirschgeweihen an den Wänden und den Zinngeräten und blanken Steinguttellern auf den Borden fand ich, in tiefen Lehnstühlen sitzend, meinen Vater und den Gutsherrn, unsern Wirt, vor, wie sie in besonnenem Gespräch alles bedächtig erwogen. Selbstverständlich verstand ich nicht viel von dem, was sie redeten, und ich habe es auch völlig vergessen. Nicht vergessen habe ich, wie ruhig und tröstlich ihre Stimmen klangen, die hellere meines Vaters und der tiefe Baß des Gutsherrn, wie vertrauenseinflößend der wohlriechende Rauch ihrer langsam gerauchten Zigarren in kleinen Säulen vor ihnen in die Luft stieg, und wie, je länger sie redeten, alles immer klarer, immer besser und immer tröstlicher wurde. Ja, es wurde schließlich geradezu unwiderleglich klar, daß es Krieg gar nicht geben konnte, und infolgedessen würden wir uns natürlich nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern bis zum Ende der Ferien hierbleiben, wie immer.

Als ich so weit zugehört hatte, ging ich hinaus, das Herz ganz geschwellt von Erlöstheit, Zufriedenheit und Dankbarkeit, und sah mit geradezu frommen Gefühlen über den Wäldern, die nun wieder mein Besitz waren, die Sonne untergehen. Der Tag war bedeckt gewesen, aber gegen Abend hatte er sich immer mehr aufgeklärt, und jetzt schwamm die Sonne, golden und rötlich, im reinsten Blau, einen wolkenlosen neuen Tag verheißend. So wolkenlos, ich war gewiß, würde die ganze Unendlichkeit von 14 Ferientagen sein, die jetzt wieder vor mir lag! –

Als ich am nächsten Tag geweckt wurde, war das Packen schon in vollem Gang. Erst verstand ich überhaupt gar nicht, was geschehen war; das Wort »Mobilmachung«, obwohl man es mir ein paar Tage vorher zu erklären versucht hatte, sagte mir gar nichts. Es war aber wenig Zeit, mir überhaupt irgend etwas zu erklären. Denn mittags mußten wir bereits mit Sack und Pack fahren – es war zweifelhaft, ob später noch irgendein Zug für uns dasein würde. »Heute gehts Null komma fünf«, sagte unser tüchtiges Dienstmädchen; eine Redensart, deren eigentlicher Sinn mir heutigentags noch dunkel ist, die aber jedenfalls besagte, daß es drüber und drunter ging und daß jeder sehen mußte, wo er bliebe. So konnte es auch geschehen, daß ich mich unbemerkt noch einmal davonmachen und in die Wälder laufen konnte – wo man mich gerade noch rechtzeitig vor der Abfahrt auffand, auf einem Baumstumpf sitzend, Kopf in den Händen, fassungslos heulend und ohne jedes Verständnis für den Zuspruch, daß nun Krieg sei und daß jeder Opfer bringen müsse.

Irgendwie wurde ich in den Wagen verstaut und fort gings hinter zwei trabenden braunen Pferden –

nicht mehr Hanns und Wachtel, die waren schon fort –, mit Staubwolken hinter uns, die alles verhüllten. Nie habe ich die Wälder meiner Kindheit wiedergesehen.

Es war das erste und letzte Mal, daß ich ein Stück vom Kriege als Wirklichkeit erlebte, mit dem natürlichen Schmerz des Menschen, dem etwas genommen und zerstört wird. Schon unterwegs wurde alles anders, aufregender, abenteuerlicher – festlicher. Die Eisenbahnfahrt dauerte nicht sieben Stunden wie sonst, sondern zwölf. Ständig gab es Aufenthalte, Züge voller Soldaten kamen an uns vorüber, und jedesmal stürzte alles zu den Fenstern, mit Winken und brausendem Rufen. Wir hatten kein Abteil für uns wie sonst, wenn wir reisten, sondern standen in Gängen oder saßen auf unseren Koffern, eingequetscht zwischen vielen Menschen, die alle unaufhörlich schnatterten und redeten, als wären es keine Fremden, sondern alte Bekannte. Am meisten sprachen sie über Spione.