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Ich lernte auf dieser Fahrt alles über das abenteuerliche Gewerbe der Spione, von dem ich noch nie gehört hatte. Über alle Brücken fuhren wir ganz langsam, und ich empfand jedesmal ein angenehmes Gruseln dabei; konnte doch ein Spion Bomben unter die Brücke gelegt haben! Als wir in Berlin ankamen, war es Mitternacht. Nie in meinem Leben war ich so lange aufgeblieben! Und unsere Wohnung war keineswegs auf uns vorbereitet, Bezüge über den Möbeln, die Betten nicht instand. Man machte mir ein Lager auf einem Sofa im tabakduftenden Arbeitszimmer meines Vaters. Kein Zweifeclass="underline" Ein Krieg brachte auch vieles Erfreuliche mit sich.

In den nächsten Tagen lernte ich unglaublich viel in unglaublich kurzer Zeit. Ich, ein siebenjähriger Junge, der noch vor kurzem kaum gewußt hatte, was ein Krieg, geschweige was »Ultimatum«,

»Mobilisierung« und »Kavalleriereserve« ist, wußte alsbald, als hätte ich es immer gewußt, ganz genau nicht nur das Was, Wie und Wo des Krieges, sondern sogar das Warum: Ich wußte, daß am Kriege Frankreichs Revanchelüsternheit, Englands Handelsneid und Rußlands Barbarei schuld waren – ganz geläufig konnte ich alle diese Worte alsbald aussprechen. Ich fing einfach eines Tages an, die Zeitung zu lesen, und wunderte mich, wie überaus leicht verständlich sie war. Ich ließ mir die Karte von Europa zeigen, sah auf einen Blick, daß »wir« mit Frankreich und England schon fertig werden würden, empfand allerdings einen dumpfen Schreck über die Größe Rußlands, ließ mich aber dadurch trösten, daß die Russen ihre beängstigende Zahl durch unglaubliche Dummheit und Verkommenheit und beständiges Wodkatrinken wieder wettmachten. Ich lernte – und zwar, wie gesagt, so schnell, als hätte ich es immer gewußt – die Namen von Heerführern, die Stärke von Armeen, die Bewaffnung mit naiver Lust und ohne eine Spur von Zweifel oder Konflikt, die Auswirkung der seltsamen Begabung meines Volkes, Massenpsychosen zu bilden. (Eine Begabung, die vielleicht ein Ausgleich für sein geringes Talent zum individuellen Glück ist.) Ich hatte keine Ahnung, daß es überhaupt möglich sein könnte, bei einer solchen festlich–allgemeinen Raserei sich auszuschließen. Ich kam auch nicht im entferntesten auf den Gedanken, daß etwas Schlimmes oder Gefährliches an einer Sache sein könnte, die so offensichtlich glücklich machte und so unalltäglich–

festliche Rauschzustände verschenkte.

Nun war ein Krieg damals für einen Schuljungen in Berlin freilich etwas tief Unwirkliches: unwirklich wie ein Spiel. Es gab keine Fliegerangriffe und keine Bomben. Verwundete gab es, aber nur von fern, mit malerischen Verbänden. Man hatte Verwandte an der Front, gewiß, und hin und wieder kam eine Todesanzeige. Aber dafür war man ein Kind, daß man sich schnell an ihre Abwesenheit gewöhnte; und daß diese Abwesenheit eines Tages endgültig wurde, machte schon gar keinen Unterschied mehr. Was es an wirklichen Härten und fühlbaren Unannehmlichkeiten gab, zählte wenig.

Schlechtes Essen – nun ja. Später auch zu wenig Essen, klappernde Holzsohlen an den Schuhen, gewendete Anzüge, Knochen– und Kirschkernsammlungen in der Schule, und, seltsamerweise, häufiges Kranksein. Aber ich muß gestehen, daß mir das alles keinen tiefen Eindruck machte. Nicht etwa, daß ich es »trug wie ein kleiner Held«. Sondern ich hatte gar nicht so besonders daran zu tragen. Ich dachte so wenig an Essen, wie der Fußball–Enthusiast beim Cup–Final an Essen denkt.

Der Heeresbericht interessierte mich viel stärker als der Küchenzettel.

Der Vergleich mit dem Fußball–Enthusiasten trägt sehr weit. Tatsächlich war ich damals, als Kind, ein Kriegsenthusiast wie man ein Fußballenthusiast ist. Ich würde mich schlechter machen als ich war, wollte ich behaupten, daß ich wirklich ein Opfer der eigentlichen Haßpropaganda gewesen wäre, die während der Jahre 15 bis 18 die erlahmende Begeisterung der ersten Monate

hochpeitschen sollte. Ich haßte die Franzosen, Engländer und Russen so wenig wie der Portsmouth–

Anhänger die Leute von Wolverhampton »haßt«. Selbstverständlich wünschte ich ihnen Niederlage und Demütigung, aber nur weil sie die unvermeidliche Kehrseite von Sieg und Triumph meiner Partei waren.

Was zählte, war die Faszination des kriegerischen Spiels: eines Spiels, in dem nach geheimnisvollen Regeln Gefangenenzahlen, Geländegewinne, eroberte Festungen und versenkte Schiffe ungefähr die Rolle spielten wie Torschüsse beim Fußball oder »Punkte« beim Boxen. Ich wurde nicht müde, innerlich Punktetabellen zu führen. Ich war ein eifriger Leser der Heeresberichte, die ich nach einer Art »umrechnete«, nach wiederum sehr geheimnisvollen, irrationalen Regeln, in denen beispielsweise zehn gefangene Russen einen gefangenen Franzosen oder Engländer wert waren, oder 50

Flugzeuge einen Panzerkreuzer. Hätte es Gefallenenstatistiken gegeben, ich würde sicher auch unbedenklich die Toten »umgerechnet« haben, ohne mir vorzustellen, wie das in der Wirklichkeit aussah, womit ich da rechnete. Es war ein dunkles, geheimnisvolles Spiel, von einem nie endenden, lasterhaften Reiz, der alles auslöschte, das wirkliche Leben nichtig machte, narkotisierend wie Roulette oder Opiumrauchen. Ich und meine Kameraden spielten es den ganzen Krieg hindurch, vier Jahre lang, ungestraft und ungestört – und dieses Spiel, nicht die harmlosen »Kriegsspiele«, die wir nebenbei auf Straßen und Spielplätzen aufführten, war es, was seine gefährlichen Marken in uns allen hinterlassen hat.

4

Vielleicht findet man es nicht der Mühe wert, daß ich die offensichtlich unadäquaten Reaktionen eines Kindes auf den Weltkrieg so ausführlich darstelle. Gewiß wäre es nicht der Mühe wert, wenn es sich dabei um einen Einzelfall handelte. Es ist aber kein Einzelfall. So oder so ähnlich hat eine ganze deutsche Generation in ihrer Kindheit oder frühen Jugend den Krieg erlebt – und zwar sehr bezeichnenderweise die Generation, die heute seine Wiederholung vorbereitet.

Es schwächt die Kraft und Nachwirkung dieses Erlebnisses keineswegs ab, daß die, die es erfuhren, Kinder oder junge Burschen waren; im Gegenteiclass="underline" Die Massenseele und die kindliche Seele sind sehr ähnlich in ihren Reaktionen. Man kann sich die Konzeptionen, mit denen Massen gefüttert und bewegt werden, gar nicht kindlich genug vorstellen. Echte Ideen müssen, um massenbewegende historische Kräfte zu werden, im allgemeinen erst bis auf die Fassungskraft eines Kindes heruntersimplifiziert werden. Und eine kindische Wahnvorstellung, gebildet in den Köpfen von zehn Kinderjahrgängen und vier Jahre hindurch in ihnen festgenagelt, kann sehr wohl zwanzig Jahre später als tödlich ernsthafte »Weltanschauung« ihren Einzug in die große Politik halten.

Der Krieg als ein großes, aufregend–begeisterndes Spiel der Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat; das war 1914 bis 1918 die tägliche Erfahrung von zehn Jahrgängen deutscher Schuljungen; und das ist die positive Grundvision des Nazitums geworden. Von dieser Vision her bezieht es seine Werbekraft, seine Simplizität, seinen Appell an Phantasie und Aktionslust; und von ihr bezieht es ebenso seine Intoleranz und Grausamkeit gegen den innenpolitischen Gegner: weil der, der dieses Spiel nicht mitmachen will, gar nicht als »Gegner« anerkannt, sondern einfach als Spielverderber empfunden wird. Und schließlich bezieht es von ihr seine selbstverständlich kriegsmäßige Einstellung gegen den Nachbarstaat: weil jeder andere Staat wiederum nicht als »Nachbar« anerkannt wird, sondern nolens volens Gegner zu sein hat – sonst könnte ja das ganze Spiel nicht stattfinden!