»Einzelaktionen«. Die Revolution nahm eine Beamtenmiene an. Es bildete sich so etwas wie ein
»Boden der Tatsachen« – etwas, womit der Deutsche kraft alter Gewöhnung gar nichts anderes tun kann, als sich darauf stellen.
Man durfte wieder in den jüdischen Geschäften kaufen. Man wurde zwar weiter aufgefordert, es zu unterlassen, man wurde auch in Dauerplakaten als »Volksverräter« bezeichnet, wenn man es dennoch tat, aber man durfte es. Keine SA–Posten standen mehr vor den Ladentüren. Die jüdischen Beamten, Ärzte, Anwälte, Journalisten wurden zwar entlassen, aber nunmehr gesetzlich und ordentlich, nach Paragraph soundso, und es gab Ausnahmen für Frontkämpfer und alte Leute, die schon unter dem Kaiserreich gedient hatten – konnte man mehr verlangen? Die Gerichte, nachdem sie eine Woche lang suspendiert gewesen waren, durften wieder zusammentreten und Recht sprechen. Die Unabsetzbarkeit der Richter allerdings wurde aufgehoben, streng gesetzlich und ordentlich. Zugleich wurde den Richtern, die nunmehr also jeden Tag auf die Straße gesetzt werden konnten, erklärt, daß man ihre Macht unermeßlich gesteigert habe: Sie seien jetzt »Volksrichter«,
»Richterkönige« geworden. Sie brauchten sich nicht mehr ängstlich an das Gesetz zu halten. Sie sollten es nicht einmal. Verstanden?
Seltsam war es, wieder im Kammergericht zu sitzen, in demselben Saal wie stets, auf denselben Bänken, und so zu tun, als sei eigentlich nichts vorgefallen. Dieselben Wachtmeister standen wieder an den Türen und schützten wie stets die Würde des Gerichtshofs gegen jede Störung. Sogar die Richter waren zum größten Teil dieselben. Der jüdische Kammergerichtsrat in unserm Senat freilich war nicht mehr da, selbstverständlich. Er war zwar nicht entlassen, er war ein alter Herr und hatte längst unter dem Kaiserreich Recht gesprochen, aber man hatte ihn in die Grundbuch– oder Rechnungsabteilung irgendeines Amtsgerichts gesteckt. Statt seiner saß in unserm Senat, seltsam anzusehen zwischen den greisen Kammergerichtsräten, ein junger blonder Amtsgerichtsrat, rotwangig und aufgeschossen. Ein Kammergerichtsrat ist etwa ein General, ein Amtsgerichtsrat etwa ein Oberleutnant. Man flüsterte sich zu, daß er privat eine hohe SS–Charge habe. Er grüßte mit ausgestrecktem Arm und schallendem »Heil Hitler«. Der Senatspräsident und die andern alten Herren wedelten darauf unbestimmt mit dem Arm und murmelten etwas Undeutliches. Im
Beratungszimmer, während der Frühstückspause, hatten sie früher manchmal ein wenig geplaudert, leise und abgeklärt nach Art kultivierter älterer Herren, über die Tagesereignisse oder über Justizpersonalien. Damit war es jetzt aus. Tiefes verlegenes Schweigen herrschte, während sie zwischen den Beratungen ihre Butterbrote aßen.
Seltsam verliefen oft die Beratungen. Das neue Senatsmitglied gab mit frischer, selbstbewußter Stimme befremdliche Rechtskenntnisse zum besten. Wir Referendare, mit unseren frischen Examenskenntnissen, wechselten Blicke, während er referierte. »Sollten Sie nicht, Herr Kollege«, sagte schließlich mit vollkommener Höflichkeit der Senatspräsident, »§ 816 des Bürgerlichen Gesetzbuchs übersehen haben?« Worauf der hohe Richter, ein wenig einem ertappten
Examenskandidaten gleich, in seinem Gesetzbuch blätterte und leicht verlegen, aber immer noch frisch und leichtherzig zugab: »Ach so, ja. Na, dann ist es also gerade umgekehrt.« Das waren so die Triumphe der alten Justiz.
Es gab aber auch andere Fälle – Fälle, in denen der Neukömmling sich nicht geschlagen gab, sondern eloquent und mit etwas zu lauter Stimme Vorträge darüber hielt, daß das alte Paragraphenrecht hier zurückstehen müsse; seine alten Richterkollegen darüber belehrte, daß man auf den Sinn und nicht auf den Buchstaben blicken müsse; Hitler zitierte; und mit der Geste eines jugendlichen Bühnenhelden auf irgendeiner unhaltbaren Entscheidung bestand. Es war
mitleiderregend, währenddessen die Gesichter der alten Kammergerichtsräte zu studieren. Sie blickten mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Betrübtheit vor sich nieder in ihre Akten, während ihre Finger leicht gequält an einer Büroklammer oder einem Stückchen Löschpapier drehten. Für Gerede, wie sie es da jetzt als hohe Weisheit anhören mußten, waren sie sonst gewöhnt, Kandidaten durchs Assessorexamen fallen zu lassen; aber hinter diesem Gerede stand jetzt die Staatsmacht; dahinter drohte Entlassung wegen mangelnder nationalpolitischer Zuverlässigkeit, Brotlosigkeit, Konzentrationslager... Man hüstelte; »wir sind natürlich ganz Ihrer Ansicht, Herr Kollege«, sagte man,
»aber Sie werden verstehen...« Und man flehte um ein wenig Verständnis für das Bürgerliche Gesetzbuch und versuchte zu retten, was zu retten war.
So das Kammergericht in Berlin im April 1933. Es war dasselbe Kammergericht, dessen Räte sich einige 150 Jahre früher von Friedrich dem Großen lieber hatten einsperren lassen, als daß sie auf königliche Kabinettsorder hin ein Urteil änderten, das sie für richtig hielten. In Preußen kennt jedes Schulkind noch heute eine Legende aus jener Zeit, die, wahr oder nicht, den Ruf dieses Gerichtshofs kennzeichnet: Fridericus wollte danach beim Bau Sans–Soucis eine Windmühle, die noch heute neben dem Schloß steht, beseitigen lassen und machte dem Müller ein Kaufangebot. Der Müller lehnte ab; er wollte seine Mühle nicht hergeben. Der König drohte darauf, er werde den Müller einfach enteignen lassen – worauf der Müller: »Ja, Majestät – wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!«
1933 brauchte kein Fridericus, brauchte nicht einmal ein Hitler sich persönlich zu bemühen, um das Kammergericht und seine Rechtsprechung »gleichzuschalten«. Ein paar junge Amtsgerichtsräte mit forschen Manieren und mangelhaften Rechtskenntnissen genügten dazu.
Ich war nicht mehr lange ein Zeuge des Niedergangs dieser großen, alten und stolzen Institution.
Meine Ausbildungszeit näherte sich ihrem Ende; nur ein paar kurze Monate erlebte ich noch das Kammergericht des Dritten Reichs. Es waren traurige Monate, Abschiedsmonate in mehr als einem Sinn. Ich fühlte mich an einem Sterbelager. Ich fühlte, daß ich in diesem Gebäude nichts mehr zu suchen hatte, daß der Geist, der darin geherrscht hatte, immer spurloser entwich, und ich hatte ein fröstelndes Gefühl von Heimatlosigkeit. Ich war kein begeisterter Jurist gewesen, nein, und ich hatte nicht besonders innig an der richterlich–gouvernementalen Zukunft gehangen, die mein Vater für mich geplant hatte. Dennoch hatte ich etwas wie Zugehörigkeit hier gespürt, und ich sah mit Bedrückung das trübe, ruhmlose Verenden und Versacken einer Welt mit an, in der ich immerhin nicht ganz ohne Heimatsgefühl, nicht ganz ohne Teilnahme und nicht ohne einen kleinen Stolz zu Hause gewesen war. Sie löste sich vor meinen Augen auf, sie zersetzte sich und verweste, ohne daß ich irgendetwas daran ändern konnte; das einzige, was mir blieb, war Achselzucken und das sichere und trübe Wissen, daß es hier keine Zukunft mehr für mich gab.
Äußerlich übrigens sah alles ganz anders aus. Wir Referendare stiegen täglich und sichtbar im Kurs.
Der Nationalsozialistische Juristenbund schrieb uns – auch mir – höchst schmeichelhafte Briefe: Wir seien die Generation, die das neue deutsche Recht aufzubauen habe. »Kommt in unsere Reihen, arbeitet mit an den gewaltigen Aufgaben, die der Wille des Führers uns stellt!« Ich ließ die Schreiben in den Papierkorb sinken, aber so taten nicht alle. Man fühlte es den Referendaren an, wie sie an Wichtigkeit und Selbstbewußtsein gewannen. Sie waren es jetzt, und nicht mehr die
Kammergerichtsräte, die in den Sitzungspausen eingeweiht die höheren Justizpersonalien diskutierten. Man hörte die unsichtbaren Marschallstäbe in den unsichtbaren Tornistern rascheln.
Selbst die, die bisher keine Nazis gewesen waren, fühlten ihre Chance. »Ja, es weht ein scharfer Wind, Herr Kollege«, sagten sie und berichteten mit stillem Triumph von Leuten, die frisch aus dem Assessorexamen ins Justizministerium gestiegen waren, und umgekehrt von »scharfen« und gefürchteten Senatspräsidenten, die schlechthin entlassen worden waren – »er war mit dem Reichsbanner zu intim gewesen, wissen Sie? Das rächt sich jetzt« – oder in obskure Amtsgerichte in der Provinz geschickt. Man witterte wieder ein wenig die glorreiche Luft von 1923, als plötzlich die jungen Leute das Heft in der Hand gehabt hatten, als man von heute auf morgen Bankdirektor und Autobesitzer hatte sein können – während Alter und begriffsstutziges Vertrauen auf