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Ich »liebe« Deutschland nicht, sowenig wie ich mich selbst »liebe«. Wenn ich ein Land liebe, ist es Frankreich, aber auch jedes andere Land könnte ich eher lieben als mein eigenes – auch ohne Nazis. Das eigene Land hat aber eine ganz andere, viel unersetzlichere Rolle als die des Geliebten; es ist – eben das eigene Land. Verliert man es, so verliert man fast auch die Befugnis, ein anderes Land zu lieben. Man verliert alle Voraussetzungen zu dem schönen Spiel nationaler Gastlichkeit –

zum Austausch, Einandereinladen, Einanderverstehen–Lehren, Voreinander–Paradieren. Man wird –

nun eben ein »Sans–patrie«, ein Mann ohne Schatten, ohne Hintergrund, bestenfalls ein irgendwo Geduldeter – oder, wenn man freiwillig oder unfreiwillig darauf verzichtet, der inneren Emigration die äußere hinzuzufügen, ein gänzlich Heimatloser, ein Verbannter im eigenen Land.

Diese Operation, die innere Loslösung vom eigenen Land, freiwillig zu vollziehen, ist ein Akt von biblischer Radikalität: »Wenn dich dein Auge ärgert – reiß es aus!« Sehr viele, die genau so dicht daran waren wie ich, haben sie denn auch nicht fertig gebracht, und stolpern seither seelisch und geistig bewegungsunfähig dahin, schaudernd vor den Verbrechen, die in ihrem Namen begangen werden, eher unfähig, sich von der Verantwortung dafür offen loszusagen, eingefangen in einem Netz scheinbar unlöslicher Konflikte: Müssen sie nicht ihrem Lande Opfer bringen – Opfer auch der besseren Einsicht, der Moral, der Menschenwürde und des Gewissens? Zeigt nicht das, was sie »den unerhörten Aufstieg Deutschlands« nennen, daß es lohnt und daß die Rechnung aufgeht? Sie übersehen, daß es sowenig einer Nation wie einem Menschen das Geringste nützt, daß sie die ganze Welt gewönne, wenn sie dabei Schaden an ihrer Seele nimmt; und sie übersehen genauso, daß sie ihrem Patriotismus (oder was sie dafür halten) nicht nur sich opfern – sondern auch ihr Land.

Denn – und dies war es, was den Abschied schließlich fast unvermeidlich machte – Deutschland blieb nicht Deutschland. Die deutschen Nationalisten selbst haben es zerstört. Es wurde allmählich unübersehbar, daß es nur die Oberfläche des Konflikts war, ob man sich von seinem Lande lösen müsse, um sich selbst die Treue zu halten. Der eigentliche Konflikt dahinter, freilich verdeckt unter einer Unzahl von gängigen Phrasen und Platitüden, spielte sich ab zwischen Nationalismus und –

Treue zum eigenen Land.

Das Deutschland, das für mich und meinesgleichen »unser Land« war, war schließlich nicht einfach ein Fleck auf der Landkarte Europas. Es war ein Gebilde von bestimmten, charakteristischen Zügen: Humanität gehörte dazu, Offenheit nach allen Seiten, grüblerische Gründlichkeit des Denkens, ein Niezufriedensein mit der Welt und mit sich selbst, Mut, immer wieder zu versuchen und zu verwerfen, Selbstkritik, Wahrheitsliebe, Objektivität, Ungenügsamkeit, Unbedingtheit, Vielgestaltigkeit, eine gewisse Schwerfälligkeit, aber auch eine Lust zur freiesten Improvisation, Langsamkeit und Ernst, aber ebenso ein spielerischer Reichtum des Produzierens, der immer neue Formen aus sich herauswarf und als ungültige Versuche wieder zurückzog, Respekt für alles Eigenwillige und Eigenartige, Gutmütigkeit, Großzügigkeit, Sentimentalität, Musikalität, und vor allem eine große Freiheit: etwas Schweifendes, Unbegrenztes, Maßloses, nie sich Festlegendes, nie Resignierendes. Heimlich waren wir stolz darauf, daß unser Land, geistig, ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei. Aber wie auch immer, dies war das Land, dem wir uns verbunden, in dem wir uns zu Hause fühlten.

Dieses Deutschland ist nun endlich von den deutschen Nationalisten zerstört und niedergetrampelt worden, und es ist endlich klar geworden, wer sein Todfeind ist: der deutsche Nationalismus und das

»Deutsche Reich«. Wer ihm treu bleiben und weiter zu ihm gehören will, muß den Mut zu dieser Erkenntnis aufbringen – und zu allen ihren Folgen.

Nationalismus, also nationale Selbstbespiegelung und Selbstanbetung, ist sicher überall eine gefährliche geistige Krankheit, fähig, die Züge einer Nation zu entstellen und häßlich zu machen, genau wie Eitelkeit und Egoismus die Züge eines Menschen entstellen und häßlich machen. Aber nirgends hat diese Krankheit einen so bösartigen und zerstörerischen Charakter wie gerade in Deutschland, und zwar, weil gerade »Deutschlands« innerstes Wesen Weite, Offenheit, Allseitigkeit, ja, in einem bestimmten Sinne, Selbstlosigkeit ist. Bei anderen Völkern bleibt Nationalismus, wenn sie davon befallen werden, eine akzidentielle Schwäche, neben der ihre eigentlichen Qualitäten erhalten bleiben können: In Deutschland aber, wie es sich trifft, tötet gerade Nationalismus den Grundwert des nationalen Charakters. Dies erklärt, warum die Deutschen – in gesundem Zustand zweifellos ein feines, empfindungsfähiges und sehr menschliches Volk – in dem Augenblick, wo sie der nationalistischen Krankheit verfallen, schlechthin unmenschlich werden und eine bestialische Häßlichkeit entwickeln, deren kein anderes Volk fähig ist: Sie, und gerade und nur sie, verlieren durch Nationalismus alles, den Kern ihres menschlichen Wesens, ihrer Existenz, ihres Selbst. Diese Krankheit, die bei anderen nur die äußere Haltung beschädigt, zerfrißt bei ihnen die Seele. Ein nationalistischer Franzose kann unter Umständen immer noch ein sehr typischer (und sonst sehr liebenswürdiger) Franzose bleiben. Ein Deutscher, der dem Nationalismus verfällt, bleibt kein Deutscher mehr; er bleibt kaum noch ein Mensch. Und was er zustande bringt, ist ein deutsches, vielleicht sogar ein großdeutsches oder alldeutsches Reich – und die Zerstörung Deutschlands.

Freilich darf man es sich nicht so vorstellen, als hätte Deutschland und seine Kultur 1932 blühend und prächtig dagestanden, und die Nazis hätten es mit einem Schlage über den Haufen geworfen.

Die Geschichte der Selbstzerstörung Deutschlands durch seinen krankhaften Nationalismus reicht weiter zurück, und es wäre der Mühe wert, sie zu schreiben. Ihr großes Paradox ist, daß jeder Akt dieser Selbstzerstörung in einem siegreichen Krieg, einem äußeren Triumph bestand. Vor 150

Jahren war »Deutschland« groß im Aufsteigen; die »Freiheitskriege« von 1813 bis 1815 brachten den ersten großen Rückschlag, die Kriege von 1864 bis 1870 den zweiten. Nietzsche war der erste, der prophetisch erkannte, daß damals die deutsche Kultur ihren Krieg gegen das deutsche »Reich«

verloren hatte. Damals bereits verlor Deutschland für lange Zeit jede Chance, seine politische Form zu finden; in dem preußisch–deutschen Reich Bismarcks bereits steckte es wie in einer Zwangsjacke. Es hatte seither auch keine politische Vertretung mehr (es sei denn in seinem katholischen Sektor): Die nationalistische Rechte haßte es, die marxistische Linke ignorierte es. Aber immer noch blieb es am Leben, still und zäh: bis 1933. Man fand es noch, in Tausenden von Häusern, Familien, Privatzirkeln, in manchen Redaktionsstuben, Theatern, Konzerthäusern, Verlagen, an verstreuten Stellen des öffentlichen Lebens von Kirchen bis zu Kabaretts. Die Nazis erst, als die radikalen und guten Organisatoren, die sie sind, haben es überall aufgestöbert und ausgeräuchert. Nicht erst Österreich und die Tschechoslowakei: Deutschland war ihr erstes besetztes Gebiet. Daß sie es unter der Parole »Deutschland« besetzten und zertrampelten, war nur einer ihrer nachgerade bekannten Tricks – und freilich zugleich ein Teil des Zerstörungswerks selbst.

Dem Deutschen, der sich diesem Deutschland verbunden fühlte – und nicht jedem Gebilde, daß sich auf einem bestimmten geographischen Raum jeweils gerade breitmachen würde – blieb wiederum nichts als Abschied: so erschreckend dieser Abschied aussah, der ihn äußerlich sein Land kosten mußte. Freilich macht gerade die Weite und allseitige Aufgeschlossenheit, die im ursprünglich deutschen Charakter liegt, diesen Verlust vielleicht ein wenig leichter, als er für andere wäre. Jede Fremde, das fühlte man allmählich immer unausweichlicher, würde heimatlicher sein als das »Reich«