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Und dann nahte, von Oktober ab, die Revolution heran. Sie bereitete sich ähnlich vor wie der Krieg, mit plötzlich in der Luft herumschwirrenden neuen Worten und Begriffen, und wie der Krieg kam sie dann zuletzt doch fast überraschend. Aber hier hört der Vergleich auf. Der Krieg, was immer man über ihn sagen kann, war etwas Ganzes gewesen, eine Sache, die klappte, in seiner Art ein Erfolg, zunächst wenigstens. Von der Revolution kann man das nicht sagen.

Es ist für die gesamte weitere deutsche Geschichte von verhängnisvoller Bedeutung gewesen, daß der Kriegsausbruch, trotz allem fürchterlichen Unglück, das ihm folgte, für fast alle mit ein paar unvergeßlichen Tagen größter Erhebung und gesteigerten Lebens verbunden geblieben ist, während an die Revolution von 1918, die doch schließlich Frieden und Freiheit brachte, eigentlich fast alle Deutschen nur trübe Erinnerungen haben. Schon daß der Kriegsausbruch bei prächtigem

Sommerwetter und die Revolution bei naßkaltem Novembernebel vor sich ging, war ein schweres Handicap für die Revolution. So etwas mag lächerlich klingen, aber es ist wahr. Die Republikaner fühlten es später selbst; sie haben nie so recht an den 9. November erinnert sein wollen, und haben ihn nie öffentlich gefeiert. Die Nazis, die den August 14 gegen den November 18 ausspielten, hatten immer ein leichtes Spiel. November 18: Obwohl der Krieg zu Ende ging, die Frauen ihre Männer, die Männer ihr Leben zurückgeschenkt bekamen, ist seltsamerweise kein festliches Nachgefühl mit dem Datum verbunden; vielmehr Mißmut, Niederlage, Angst, sinnlose Schießerei, Konfusion, ja und schlechtes Wetter.

Ich habe persönlich von der eigentlichen Revolution wenig gemerkt. Am Sonnabend meldete die Zeitung, der Kaiser habe abgedankt. Irgendwie überraschte es mich, daß so wenig dabei war. Es war eben auch nur eine Zeitungsüberschrift, und im Kriege hatte ich größere gesehen. In Wahrheit hatte er übrigens noch nicht einmal abgedankt, als wir es in der Zeitung lasen. Da er es dann aber bald nachholte, war auch das nicht mehr so wesentlich.

Erschütternder als die Überschrift »Abdankung des Kaisers« war es schon, daß am Sonntag die Zeitung »Tägliche Rundschau« plötzlich »Die Rote Fahne« hieß. Irgendwelche revolutionären Druckereiarbeiter hatten das durchgesetzt. Im übrigen war der Inhalt wenig verändert, und nach ein paar Tagen hieß sie auch wieder »Tägliche Rundschau«. Ein kleiner Zug, der nicht unsymbolisch für die ganze Revolution von 1918 ist.

An diesem Sonntag hörte ich auch zum ersten Mal Schüsse. Während des ganzen Krieges hatte ich keinen Schuß fallen gehört. Jetzt aber, da der Krieg zu Ende ging, fing man bei uns in Berlin zu schießen an. Wir standen in einem unserer Hinterzimmer, öffneten die Fenster und hörten leise aber deutlich abgerissene Maschinengewehrfeuer. Mir war beklommen zu Mute. Irgend jemand erklärte uns, wie die schweren und wie die leichten Maschinengewehre klangen. Wir stellen Mutmaßungen an, was für ein Kampf da wohl stattfinde. Das Schießen kam aus der Gegend des Schlosses. Ob die Berliner Garnison sich doch wehrte? Ob nicht alles so glatt ging mit der Revolution?

Wenn ich darauf etwa Hoffnungen gesetzt hatte – denn ich war natürlich, was nach allem hier Erzählten keinen wundernehmen wird, von ganzem Herzen gegen die Revolution – so wurden sie am nächsten Tag enttäuscht. Es war eine ziemlich sinnlose Schießerei zwischen verschiedenen revolutionären Gruppen gewesen, deren jede sich zum Besitz des Marstalls berechtigt fühlte. Von Gegenwehr keine Spur. Die Revolution hatte offenbar gesiegt.

Andererseits, was bedeutete das nun? Wenigstens festliche Unordnung, Drunter und Drüber, Abenteuer und bunte Anarchie? Keineswegs. Vielmehr erklärte noch an diesem selben Montag der gefürchtetste unter unseren Lehrern, ein cholerischer Tyrann mit böse rollenden Äuglein, »hier«, in der Schule nämlich, habe jedenfalls keine Revolution stattgefunden, hier herrsche weiterhin Ordnung, und zur Bekräftigung dessen legte er ein paar von uns, die sich in der Pause beim Revolution–Spielen besonders hervorgetan hatten, über die Bank und verabreichte ihnen eine demonstrative Tracht Prügel. Wir alle, die wir der Exekution beiwohnten, empfanden dunkel, daß sie ein Symbol von böser und umfassender Vorbedeutung war. An einer Revolution stimmte etwas nicht, wenn bereits am Tage darauf die Jungen in der Schule für Revolution–Spielen verhauen wurden. Aus einer solchen Revolution konnte nichts werden. Es wurde ja denn auch nichts aus ihr.

Inzwischen stand noch das Kriegsende aus. Daß die Revolution gleichbedeutend mit dem Ende des Krieges sei, war mir wie jedermann klar, und zwar offensichtlich mit einem Ende ohne Endsieg, da ja die kleine dazu nötige Extra–Anstrengung unverständlicherweise unterblieben war. Wie aber so ein Kriegsende ohne Endsieg aussehen würde, davon hatte ich keinen Begriff; ich mußte es erst sehen, um es mir vorstellen zu können.

Da ja der Krieg sich irgendwo im fernen Frankreich abspielte, in einer unwirklichen Welt, aus der nur die Heeresberichte wie Botschaften aus dem Jenseits zu uns herüberkamen, hatte auch sein Ende keine eigentliche Wirklichkeit für mich. Nichts änderte sich in meiner unmittelbaren, sinnlich wahrnehmbaren Umgebung. Das Ereignis spielte ausschließlich in jener Traumwelt des großen Spiels, in der ich vier Jahre lang gelebt hatte ... Aber freilich, diese Welt war ja viel bedeutender für mich geworden als die wirkliche.

Am 9. und 10. November gab es noch Heeresberichte, üblichen Stils: »Feindliche

Durchbruchsversuche abgewiesen«, »... gingen unsere Truppen nach tapferer Gegenwehr in vorbereitete Stellungen zurück...« Am 11. November hing kein Heeresbericht mehr am schwarzen Brett meines Polizeireviers, als ich mich zur üblichen Stunde einstellte. Leer und schwarz gähnte mich das Brett an, und ich ermaß mit Schrecken, wie es sein würde, wenn dort, wo ich jahrelang täglich die Nahrung meines Geistes und den Inhalt meiner Träume geschöpft hatte, nichts mehr sein würde als, für immer und ewig, ein leeres schwarzes Brett. Inzwischen aber ging ich weiter.

Irgendwelche Nachrichten vom Kriegsschauplatz mußte es doch, schließlich geben. Wenn schon der Krieg aus war (womit man rechnen mußte) – wenigstens das Ende mußte doch noch stattgefunden haben, irgendetwas wie der Abpfiff beim Spiel, berichtenswert immerhin. Eine Anzahl Straßen weiter war ein anderes Polizeirevier. Vielleicht hing dort ein Bericht.

Auch dort hing keiner. Die Polizei war eben auch von der Revolution angesteckt worden, und die alte Ordnung war zerstört. Ich konnte mich aber nicht abfinden. Ich trieb weiter durch die Straßen, in einem feinen nässenden Novemberregen, auf der Suche nach irgendwelchen Nachrichten. Ich kam in fremdere Gegenden.

Irgendwo fand ich einen kleinen Menschenhaufen vor der Auslage eines Zeitungsladens. Ich stellte mich an, drängelte mich sachte durch und konnte schließlich auch lesen, was alle, schweigend und mißmutig, lasen. Es war ein verfrühtes Zeitungsblatt, das da aushing, und es hatte die Überschrift:

»Waffenstillstand unterzeichnet«. Darunter standen die Bedingungen, eine lange Liste. Ich las sie.

Während ich las, erstarrte ich.

– Womit soll ich meine Empfindungen vergleichen – die Empfindungen eines elfjährigen Jungen, dem eine ganze Phantasiewelt zusammenbricht? Soviel ich nachdenke, es ist schwer, im normalen, wirklichen Leben ein Äquivalent dafür zu finden. Gewisse traumhafte Katastrophen sind eben nur in Traumwelten möglich. Wenn jemand, der jahrelang große Summen zur Bank getragen hat, eines Tages seinen Kontoauszug anfordert und erfährt, daß, er statt eines Vermögens eine erdrückende Schuldenlast besitzt, mag ihm ähnlich zumute sein. Aber so etwas gibt es eben nur im Traum.

Diese Bedingungen sprachen nicht mehr die schonende Sprache der letzten Heeresberichte. Sie sprachen erbarmungslos die Sprache der Niederlage; so erbarmungslos, wie die Heeresberichte immer nur von feindlichen Niederlagen gesprochen hatten. Daß es so etwas auch für »uns« geben konnte – und zwar nicht als Zwischenfall, sondern als das Endergebnis von lauter Siegen und Siegen