Sie reichte ihm die Papiere und schalt sich selbst für ihre Gedanken über die Narbe und die ungewaschene und ungebügelte Uniform. Schmutz war etwas rein Oberflächliches, und vielleicht war Rebka einfach von einem Unglück ins nächste geschlittert.
Nur dass der jüngere Mann ebenso schmutzig aussah, und auch er hatte Narben. Vor langer Zeit hatte er sich schwere Verbrennungen am Nacken und auf einer Gesichtshälfte zugezogen, und anschließend war ein so stümperhafter Versuch in rekonstruktiver Chirurgie unternommen worden, wie man ihn auf Wachposten-Tor niemals akzeptiert hätte.
Vielleicht hatten die Brandnarben auch dazu geführt, dass sein gesamtes Gesicht deutlich weniger beweglich war. Auf jeden Fall hatte er einen ganz anderen Gesichtsausdruck als Rebka. Während der Captain recht unbeschwert und sympathisch auftrat, all seiner Schmuddeligkeit und seinem Mangel an Finesse zum Trotz, wirkte der andere Mann verschlossen und distanziert. Sein Gesicht war steif und ausdruckslos, und er schien Darya kaum wahrzunehmen, obwohl sie in kaum zwei Metern Entfernung vor ihm stand. Und während sich Rebka ganz offensichtlich körperlich bester Gesundheit erfreute, wirkte der andere im Gegensatz zu ihm mitgenommen und eher kränklich, ganz als würde er nicht regelmäßig Nahrung zu sich nehmen und sich nicht im Geringsten um seine Gesundheit scheren.
Seine Augen passten ganz und gar nicht zu seinem noch jungen Gesicht. Sie wirkten tot und desinteressiert, waren matte Glasperlen, die Augen eines Mannes, der sich aus dem gesamten Universum zurückgezogen hatte. Es schien unwahrscheinlich, dass er Darya irgendwelche Schwierigkeiten würde machen wollen.
Gerade als sie zu diesem beruhigenden Schluss gekommen war, erwachte das Gesicht des Mannes zum Leben, und er bellte: »Mein Name ist Perry. Commander Max Perry. Warum wollen Sie Erdstoß aufsuchen?«
Diese Frage brachte Darya völlig aus dem Gleichgewicht. Nichts von all dem, was Darya aus entsprechenden Gesprächen innerhalb der Allianz kannte: keine einleitenden Höflichkeitsfloskeln, keine traditionelle Eröffnung des Gesprächs. Sofort war Darya davon überzeugt, dass diese Leute Bescheid wussten — sie wussten von der Anomalie, wussten, welche Rolle sie, Darya Lang, bei deren Entdeckung gespielt hatte, und sie wussten auch, was sie hier suchte. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
»Nab… ›Nabelschnur‹.« Sie musste sich regelrecht anstrengen, um überhaupt Worte zu finden. »Ich … ich habe eine Gesamtstudie aller bekannten Artefakte der Baumeister erstellt; das ist die Arbeit meines gesamten Lebens.« Sie machte eine Pause und räusperte sich. »Ich habe alles über ›Nabelschnur‹ gelesen, was ich bekommen konnte. Aber ich wollte dieses Artefakt mit eigenen Augen sehen und in Erfahrung bringen, wie die Vertäuungen auf Opal und Erdstoß funktionieren. Und ich möchte herausfinden, wie ›Mittelstation‹ die ›Nabelschnur‹ steuert, sodass sie sich während des Gezeitensturms ins All zurückzieht.«
Perrys Miene blieb ausdruckslos, doch Captain Rebka lächelte jetzt ein wenig. Sie war sich sicher, dass er ihre Lügengeschichte sofort als solche erkannt hatte.
»Professorin Lang.« Er las den Namen aus ihren Anmeldepapieren ab. »Wir wollen Besucher nicht entmutigen. Dobelle braucht alle Einnahmen, die es kriegen kann. Aber um diese Jahreszeit ist es gefährlich, sich auf Opal oder Erdstoß aufzuhalten.«
»Das weiß ich. Ich habe alles Verfügbare über die Meeresgezeiten auf Opal gelesen, und auch über die Landgezeiten auf Erdstoß.« Wieder räusperte sie sich. »Es liegt mir fern, mich in Gefahr zu begeben.« Letzteres stimmt sogar, dachte sie und grinste innerlich. »Ich habe vor, sehr vorsichtig vorzugehen und alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.«
»Also haben Sie über den Gezeitensturm gelesen.« Perry wandte sich Rebka zu, und Darya Lang spürte, dass zwischen den beiden Männern eine deutliche Spannung in der Luft lag. »Und Gleiches gilt auch für Sie, Captain Rebka. Aber etwas zu lesen und etwas selbst mitzuerleben, das sind zwei unterschiedliche Dinge. Und keinem von Ihnen scheint klar zu sein, dass der Gezeitensturm dieses Mal anders als je zuvor sein wird, ein Gezeitensturm, wie wir ihn noch nie miterlebt haben!«
»Es muss jedes Mal anders sein«, erwiderte Rebka ruhig. Er lächelte, doch Darya Lang spürte seinen inneren Widerstreit. Rebka war älter und hatte von den Männern den höheren Dienstgrad inne, doch was den Gezeitensturm betraf, akzeptierte Commander Perry die Autorität seines Vorgesetzten eben nicht.
»Dieses Mal ist es außergewöhnlich«, beharrte Perry. »Wir werden außerordentliche Vorsichtsmaßnahmen treffen, selbst hier auf Opal. Und was auf Erdstoß passieren mag, das kann ich noch nicht einmal erahnen!«
»Auch wenn Sie selbst schon ein halbes Dutzend Gezeitenstürme miterlebt haben?«
Rebkas Lächeln war verschwunden. Schweigend blickten die beiden Männer einander an, während Darya nur noch eine Zuschauerin war. Sie fühlte, dass das Schicksal ihrer eigenen Erkundungsreise von dem Ausgang des Streits abhing, den die beiden gerade ausfochten.
»Die Große Konjunktion«, erklärte Perry nach einigen Sekunden des Schweigens. Und endlich hatte Darya eine Aussage zu hören bekommen, die ihr als Wissenschaftlerin etwas sagte.
Sie hatte die Orbitalgeometrie des Mandel-Systems genauestens studiert, während sie an Langs Universal-Katalog der Ariefakte gearbeitet hatte. Sie wusste, dass Amarant, der Zwergstern-Begleiter von Mandel, sich normalerweise so weit von seinem Primärstern entfernte, dass er dem Dobelle-System kaum mehr Licht spendete als irgendein anderer Stern am Firmament. Doch alle paar Tausend Jahre einmal brachte ihn seine Bahn deutlich näher, bis er nur noch weniger als eine Milliarde Kilometer von Mandel entfernt war. Gargantua, der Gasriese, der im System verblieben war, bewegte sich auf der gleichen Orbitalebene, und auch für ihn gab es einen Punkt größter Annäherung an Mandel.
Die kritische Zeit des Gezeitensturms für Dobelle ergab sich normalerweise, wenn Gargantua und Amarant beide weit von Mandel entfernt waren. Doch alle drei Umlaufbahnen befanden sich in einer gebundenen Resonanz. Sehr selten kam es vor, dass Amarant und Gargantua sich gleichzeitig Mandel näherten, und manchmal fiel das dann genau mit der Zeit des Gezeitensturms auf Opal und Erdstoß zusammen. Und dann …
»Die Große Konjunktion«, wiederholte Perry. »Wenn alle sich im Periastron aufreihen und die Meeres- und die Landgezeiten so stark werden wie nur irgend möglich. Wir haben keine Ahnung, wie stark das sein wird. Die Große Konjunktion ergibt sich nur einmal alle 350.000 Jahre. Das letzte Mal war das also lange bevor die ersten Menschen Dobelle besiedelt haben. Aber das nächste Mal wird das in dreiunddreißig Tagen geschehen, von jetzt an gezählt — in weniger als zwei Standardwochen! Niemand weiß, was der Gezeitensturm Opal und Erdstoß dann antun wird, aber ich weiß, dass die Gezeitenkräfte ungeheuerlich sein werden!«
Darya schaute auf den weichen Boden unter ihren Füßen hinab. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, als breche dieses zerbrechliche Schlammfloß aus lebenden und toten Pflanzen schon jetzt unter dem Ansturm dieser gewaltigen Gezeiten auseinander. Wie auch immer die Gefahren auf Erdstoß aussehen mochten, gewiss waren sie immer noch einem weiteren Aufenthalt auf Opal vorzuziehen.
»Wären wir denn dann nicht auf Erdstoß alle sicherer?«, fragte sie.
Perry schüttelte den Kopf. »Insgesamt leben dauerhaft etwa eine Million Menschen auf Opal. Das mag jemandem wie Ihnen, der von einer Welt der Allianz stammt, nicht gerade viel erscheinen, aber für eine Welt aus dem Kreis ist das recht viel. Die Bevölkerungsdichte auf dem Planeten, auf dem ich geboren wurde, macht gerade mal ein Viertel davon aus.«