»Und auf meinem weniger als ein Achtel«, ergänzte Rebka sanft. Niemand blieb auf Teufel, wenn er irgendeine Möglichkeit hatte, den Planeten zu verlassen.
»Aber wissen Sie, wie viel die permanente Gesamtbevölkerung auf Erdstoß beträgt?« Perry bedachte beide mit finsteren Blicken, während Lang sich fragte, wie sie nur auf die Idee hatte kommen können, er sei ruhig und leidenschaftslos.
»Sie beträgt null«, erklärte er nach einer kurzen Pause. »Null! Was verrät Ihnen das über das Leben auf Erdstoß?«
»Aber es gibt doch Leben auf Erdstoß!« Sie hatten den Planetenindex studiert. »Permanent ansässiges Leben.«
»Das stimmt. Aber das sind keine Menschen, und es könnten auch keine sein. Das sind native Lebensformen. Kein Mensch würde auf Erdstoß den Gezeitensturm überstehen — nicht einmal einen normalen Gezeitensturm!«
Perry sprach mit immer mehr Nachdruck. Darya wusste, dass ihr Versuch, Erdstoß einen Besuch abzustatten, gescheitert war. Der Commander würde ihr den Zutritt verweigern, und sie würde Erdstoß nicht näher kommen als bis zum Raumhafen auf der Sternenseite. Und als sie so weit in ihren Überlegungen gekommen war, kam ihr von unerwarteter Seite jemand zu Hilfe.
Rebka wandte sich an Max Perry und deutete mit einem hageren Finger zum wolkenbedeckten Himmel von Opal hinauf. »Wahrscheinlich haben Sie recht, Commander Perry«, meinte er leise. »Aber einmal angenommen, die Fremden würden das Dobelle-System aufsuchen, gerade weil die Große Konjunktion unmittelbar bevorsteht? Wir haben diese Möglichkeit gar nicht in Erwägung gezogen, als wir uns die Antragsformulare angeschaut haben.« Nun wandte er sich um und blickte Darya Lang fest an. »Ist das der wahre Grund für Ihr Kommen?«
»Nein! Definitiv nicht!« Sie war erleichtert, endlich einmal eine ehrliche Antwort geben zu können. »Ich habe an diese Große Konjunktion überhaupt nicht gedacht, bis Commander Perry sie erwähnt hat.«
»Ich glaube Ihnen.« Rebka lächelte, und plötzlich war Darya sich sicher, dass er diese Worte wirklich ernst meinte. Doch dann gingen ihr wieder Pereiras Worte durch den Kopf: ›Vertrauen Sie niemanden aus dem Phemus-Kreis! Die wenden Überlebenstaktiken an, die wir in der Allianz niemals haben entwickeln müssen.‹
»Natürlich sind die Gründe für das Kommen unserer Besucher nicht sonderlich relevant«, fuhr er fort. »Davon wird Erdstoß auch nicht weniger gefährlich.« Er wandte sich wieder Perry zu. »Und ich bin mir sicher, dass Sie recht haben, was die Gefahren auf Erdstoß während des Gezeitensturms betrifft. Andererseits liegt es in meiner Verantwortung, die Einnahmen von Dobelle zu maximieren. Genau deswegen bin ich hier. Wir sind nicht verantwortlich für die Sicherheit unserer Besucher, von der Verpflichtung, sie zu warnen, einmal abgesehen. Wenn sie sich dennoch dafür entscheiden, ihre Reise anzutreten, dann steht ihnen das frei. Die sind ja schließlich keine Kinder mehr.«
»Die haben keine Ahnung, wie es auf Erdstoß während des Gezeitensturms zugeht!« Auf Perrys Gesicht zeigten sich weiße und rote Flecke. Seine Gefühle waren offenbar stark genug, ihn völlig zu überwältigen. »Sie haben keine Ahnung!«
»Noch nicht. Aber bald.« Wieder veränderte sich Rebkas Auftreten. Er verwandelte sich in einen Vorgesetzten, der ganz eindeutig Befehle erteilte. »Ich gebe Ihnen Recht, Commander: Es wäre unverantwortlich, wenn Professorin Lang Erdstoß aufsuchen würde — solange wir die drohenden Gefahren nicht begutachtet haben. Aber sobald das geschehen ist — und ich sie hinreichend erläutern kann —, haben wir nicht die Pflicht, übermäßige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Also werden wir beide, Sie und ich, Erdstoß aufsuchen, während Professorin Lang hier auf Opal bleibt.«
Er wandte sich Darya zu. »Und wenn wir zurückgekehrt sind … nun ja, dann, Frau Professor, dann werde ich meine Entscheidung treffen.«
ARTEFAKT: WACHPOSTEN.
UKA-Nr.: 863
Galaktische Koordinaten: 27.712,863 / 16.31 1,031 / 761,157
Name: ›Wachposten‹
Sternen-/Planetenassoziation: Ryders-M/Wachposten-Tor
Bose-Zugangsknoten: G-232
Geschätztes Alter: 5,63 ± 0,07 Megajahre
Erforschungsgeschichte: ›Wachposten‹ wurde im Jahr 2649 der Expansion durch menschliche Kolonisten der Trans-Orion-Region entdeckt. Erster Zutrittsversuch 2.674 E. durch Bernardo Gullemas und die Besatzung des Forschungsschiffes D-33 der Cyclops-Klasse. Keine Überlebenden. Nachfolgende Versuche einer Annäherung 2.682 E. 2.695 E. 2.755 E. 2.803 E. 2.991 E. Keine Überlebenden.
›Wachposten‹-Warnfunkfeuer in Betrieb genommen 2739E.; Überwachungsstation auf dem nächstgelegenen Planeten (Wachposten-Tor) errichtet im Jahr 2.762 E.
Physisch-technische Eckdaten: ›Wachposten‹ ist eine nahezu sphärische, unzugängliche Region von etwas weniger als einer Million Kilometern im Durchmesser. Keine visuell erkennbaren Energiequellen, doch ›Wachposten‹ leuchtet schwach mit eigenem Licht (absolute Helligkeit +25) und ist von jedem Punkt des Ryders-M-System aus deutlich zu erkennen. Die undurchdringliche Oberfläche von ›Wachposten‹ gestattet beiderseitigen Durchtritt von Licht und anderer Strahlungen jedweder Wellenlänge, doch sämtliche stofflichen Objekte werden reflektiert, einschließlich Partikeln atomarer oder subatomarer Dimension. Aus dem Inneren dringt nur ein Photonenflux hervor, keinerlei Partikel-Emission. Laser-Beleuchtung des Inneren ist möglich, dabei wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Strukturen im Inneren von ›Wachposten‹ detektiert. Das auffallendste Objekt im Inneren ist die ›Pyramide‹, eine Struktur mit regelmäßig tetraedrischer Form, die sämtliches darauf fallendes Licht absorbiert.
Wenn Abstandsangaben im Inneren von ›Wachposten‹ sinnvoll sind (es gibt Hinweise darauf, dass dem nicht so ist — siehe unten), dann müsste diese ›Pyramide‹ eine Kantenlänge von etwa neunzig Kilometern aufweisen. Im Inneren der ›Pyramide‹ ist keine erhöhte Temperatur messbar, auch wenn die einfallende Strahlung im Gigawatt-Bereich liegt.
Weglängenmessungen unter Einsatz von Lasern zeigen, dass das Innere von ›Wachposten‹ nicht linear verknüpft ist; die Minimalzeit, die Licht benötigt, um ›Wachposten‹ zu durchqueren, beträgt 4,221 Minuten; verglichen mit einer geodätischen Reisezeit von 3,274 Sekunden für eine äquivalente Strecke durch den leeren Raum, ohne Einfluss von Gravitationstrichtern. Die Reisezeit für Licht, das orthogonal auf den ›Äquator‹ von ›Wachposten‹ fällt, ist unendlich, oder sie beträgt zumindest mehr als eintausend Jahre. Die beobachtete Rotverschiebung und seitlich einfallende Laserstrahlen lassen darauf schließen, dass sich im Inneren von ›Wachposten‹ kein Massenzentrum befindet: ein Ergebnis, das im direkten Widerspruch zu der bereits detektieren internen Struktur steht.
›Wachposten‹ hält konstant einen Abstand von 22,34 A. E. zum Primärstern von Ryders-M, befindet sich aber nicht in einer entsprechenden Umlaufbahn. Entweder werden Gravitationskräfte und Strahlungsdruck durch einen bisher unbekannten Mechanismus im Inneren von ›Wachposten‹ exakt kompensiert, oder sie besitzen keinerlei Einfluss auf die Struktur im Ganzen.
Physikalische Eigenschaften: Laut Wollaski’i und Drews wurde ›Wachposten‹ in der Nähe einer natürlichen Raum-Zeit-Anomalie errichtet und nutzt deren besonderen Eigenschaften, während er mit dem Rest des Universums nur in schwachen physikalischen Wechselwirkungen steht. Sollte das zutreffend sein, dann wäre ›Wachposten‹ eines von nur zweiunddreißig bekannten Artefakten der Baumeister, die in Zusammenhang mit bereits existierenden, natürlichen Gegebenheiten konstruiert wurden.