Die Lebensformen auf diesem Planeten dürften, so begriff Darya, in ähnlicher Weise sicher sein. Falls nicht gerade einer der Gießer das Pech hatte, in einem Gebiet festzusitzen, in dem eine besonders starke Ebbe den Meeresgrund freilegte, würde das Tier den Gezeitensturm wahrscheinlich gar nicht bemerken.
Darya flog einen Punkt nahe dem Ufer der Schlinge an, schon weit genug auf dem ›Festland‹, um sich darauf halbwegs wohl zu fühlen, und ließ den Wagen absinken. Es regnete nicht, ja, es sah sogar fast so aus, als würde Mandel es heute noch schaffen, wenigstens kurz den Kopf durch die Wolkendecke zu strecken. Darya stieg aus und blickte sich um. Es war sonderbar, sich auf einer Welt zu befinden, auf der es so wenige Menschen gab, dass von Horizont zu Horizont nicht ein einziger zu sehen war. Aber das war kein unangenehmes Erlebnis. Darya ging näher an das Ufer der Schlinge heran. Die Pflanzen mit den weichen Stielen und den lang gezogenen Blättern, die den Ozean hier säumten, bogen sich unter der Last ihrer gelben Früchte; eine davon war so groß wie Daryas Faust. Wenn man Gap glauben schenken konnte, dann konnte man diese Früchte gefahrlos essen, aber das erschien Darya ein unnötiges Risiko. Auch wenn die Fauna und Flora ihres Intestinaltraktes um entsprechende Lebensformen erweitert worden waren, die für Opal geeignet waren, mussten ihre internen Mikroorganismen doch wahrscheinlich erst noch ausdiskutierender hier für was zuständig war. Dana ging näher an die unregelmäßig geformte Kante der Schlinge heran, zog die Schuhe wieder aus und beugte sich vor, um eine Hand voll Meerwasser zu schöpfen. Dieses Risiko war sie bereit einzugehen.
Dann nippte sie einige Tropfen von ihrer Handfläche. Das Wasser schmeckte brackig und war nicht in der Art salzig, wie Darya das von Meerwasser gewohnt war. Es erinnerte sie eher an den Geschmack ihres eigenen Blutes.
Der Gedanke an das komplizierte chemische Gleichgewicht einer Welt wie Opal brachte sie dazu, sich hinzusetzen und darüber genauer nachzudenken. In einer Welt ohne Kontinente konnten Flüsse und Bäche nicht immer weiter Salze und Basen aus durch Aufwerfungen freigelegten Tiefenstrukturen auslaugen. Mikroaustritte von Methan und höheren Kohlenwasserstoffen mussten sich auf dem Meeresboden ereignen, wobei diese Verbindungen dann durch die Wassersäule absorbiert wurden. Das ganze Land-Wasser-Gleichgewicht musste drastisch anders aussehen als auf der Welt, die Darya kannte. War diese Ökologie wirklich stabil? Oder erholten sich Opal und Erdstoß immer noch von diesem traumatischen Ereignis, das vor mehr als vierzig Millionen Jahren stattgefunden hatte — als sie in ihre wilde neue Umlaufbahn um Mandel geschleudert worden waren?
Darya ging etwa einhundert Meter weiter in Richtung ›Inland‹ und setzte sich dann im Schneidersitz auf einen dunkelgrünen Hügel.
Als heller Fleck war das Zentralgestirn zu erkennen, hoch oben in dem wolkenverhangenen Himmel. Es würde noch mindestens zwei weitere Stunden hell bleiben. Jetzt, da Darya sich Opal etwas genauer angeschaut hatte, erblickte sie eine warme, freundliche Welt, ganz und gar nicht diese turbulente, tosende Welt, die sie sich vorgestellt hatte. Gewiss konnten Menschen hier leben, sogar während des Gezeitensturms. Und wenn Opal so angenehm und freundlich war, sollte dann sein Zwilling, Erdstoß, so anders sein?
Aber er würde sogar sehr, sehr anders sein müssen, wenn Daryas eigenen Schlussfolgerungen auch nur ansatzweise stichhaltig waren. Sie starrte zu dem grauen Horizont hinüber, an dem nichts zu erkennen war, kein Boot, kein Land, und ging zum tausendsten Mal die Argumentationskette durch, die sie letztendlich dazu gebracht hatte, das Dobelle-System aufzusuchen. Wie überzeugend waren diese Ergebnisse, bei denen minimale Restwerte zum minimalen Fehlerquadrat aufgetreten waren? Darya erschien es völlig undenkbar, dass eine derartig präzise Datenübereinstimmung rein zufällig auftreten sollte. Aber wenn diese Ergebnisse ihr doch so überzeugend und so unbestreitbar erschienen, warum hatten dann andere nicht die gleichen Schlüsse gezogen?
Ihr fiel nur eine einzige Antwort ein: Ihr waren diese Überlegungen leichter gefallen, weil sie eine Stubenhockerin war, ein Mensch, der nie zwischen den Sternen hin und her reiste. Die Menschheit und ihre nichtmenschlichen Nachbarn waren darauf konditioniert worden, den Raum und alle Entfernungen vor dem Hintergrund des Bose-Antriebs zu messen. Interstellarer Transport basierte auf einem präzisen Netzwerk aus Bose-Knoten. Die alten Maßeinheiten der geodätischen Entfernung hatten inzwischen kaum noch Bedeutung; jetzt zählte nur noch die Anzahl der Bose-Knoten, die man hinter sich bringen musste. Nur die Archenbewohner, oder vielleicht die alten Kolonisten, die durch den Kriechraum schlichen, mochten erleben, wie eine Veränderung an einem Artefakt der Baumeister eine Signal-Wellenfront erzeugte, die sich von ihrem Ursprung mit Lichtgeschwindigkeit durch die Galaxis bewegte. Und nur jemand wie sie, Darya Lang, der von allem fasziniert war, was mit den Baumeistern zu tun hatte, mochte sich die Frage stellen, ob es einzelne Orte und Zeiten gab, an denen all diese sphärischen Wellenfronten sich miteinander überschnitten.
Jedes einzelne Puzzlesteinchen dieser Argumentation kam Darya schwach vor, doch alle zusammen hatten Darya vollends überzeugt. Sie spürte, wie erneut Ärger in ihr aufstieg. Sie war am richtigen Ort — oder würde es zumindest bald sein, wenn sie nur endlich Opal verlassen und selbst nach Erdstoß gelangen könnte! Doch stattdessen saß sie hier in einem verschlafenen Traumland fest!
Einem verschlafenen Traumland. Noch während diese Worte sich in ihrem Verstand ausformten, hörte sie ein knirschendes Surren hinter sich. Eine Gestalt, einem Albtraum entronnen, flog durch die Luft und landete, alle sechs Beine ausgestreckt, genau vor ihr.
Darya schrie nicht, aber nur, weil ihre Kehle ihr den Dienst versagte.
Die Gestalt vor ihr hob zwei der dunkelbraunen Beine vom Boden und bäumte sich auf, ragte nun drohend vor ihr auf. Darya blickte auf einen dunkelroten, in Segmente unterteilten Hinterleib und einen kurzen Hals mit einer scharlachrot und weiß gestreiften Halskrause. Darüber thronte ein weißer, augenloser Kopf, doppelt so groß wie der eines Menschen. Einen Mund besaß dieses Wesen augenscheinlich nicht, doch ein dünner Saugrüssel ragte aus der Mitte des ›Gesichts‹ hervor; er war zusammengerollt und verschwand in einer Art Kehlsack unterhalb des faltigen Kinns.
Darya hörte eine ganze Reihe schriller, getrillerter Quietschlaute. Gelbe, oben offene Hörner in der Mitte des braunen Kopfes wurden geschwenkt und schienen ihren ganzen Körper zu scannen. Darüber entfaltete sich ein Paar hellbrauner Antennen, unverhältnismäßig lang auch für diesen großen Kopf, bildete zwei Meter lange Fächer, die in der feuchten Luft leicht zitterten.
Jetzt löst sich der Schrei, der Darya bisher in der Kehle stecken geblieben war, und sie machte einen Satz rückwärts, stolperte dabei über den kleinen Grashügel, auf dem sie zuvor gesessen hatte. Im selben Augenblick eilte eine zweite Gestalt mit langen, gleitenden Sprüngen herbei und kauerte sich vor den Panzer der ersten. Es war ebenfalls ein Arthropode, fast so hochgewachsen wie der Erste, der Körper glich dabei aber eher einem Stock, der kaum dicker war als Daryas Arm. Der schmale Kopf dieses Wesens wurde von lidlosen, zitronengelben Facettenaugen dominiert. Auf kurzen Augenstielen wurden sie nun herumgeschwenkt, um Darya in Augenschein zu nehmen.