Die dunklen Flügel zitterten langsam. Atvar H’sial schien ganz in den sinnlichen Freuden der Wärme versunken. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, bis sich die Wolken wieder schlossen, und J’merlia sagte: »Aber Männer sind Männchen. Die beherrscht ihr doch, oder etwa nicht?«
»Ich gewiss nicht. Ganz und gar nicht.«
Erneut fragte Darya sich, wie präzise wohl die Übermittlung war, die sie und ihre Gesprächspartnerin erhielten. Was für den Übersetzungsprozess nötig war, klang, als könnte eine solche Übersetzung gar nicht erst gelingen: Schließlich waren da Klänge, die in chemische Botenstoffe verwandelt sein wollten, und chemische Botenstoffe, die im Umkehrzug in Klänge übersetzt werden mussten, und das alles lief über einen Vermittler, so fremd, dass dieser vermutlich mit keiner der beiden beteiligten Parteien über eine gemeinsame kulturelle Basis verfügte. Und Atvar H’sial und ihr fehlten auch gemeinsame kulturelle Eckdaten. Atvar H’sial war ein Weibchen, das wusste sie jetzt ganz genau, aber welche Rolle spielten in der Kultur der Cecropianer die Männchen? Waren Männchen Drohnen? Sklaven?
J’merlia stieß ein lautes Summen aus, aber keine Worte, die Darya hätte verstehen können.
»Ich beherrsche nicht die Männer, die diese Entscheidung zu fällen haben«, wiederholte Darya und sprach dabei so laut und deutlich, wie sie nur konnte. »Wenn sie mir verweigern, Erdstoß aufzusuchen, dann kann ich dagegen nicht das Geringste tun.«
Das Summen wurde lauter. »Höchst unbefriedigend«, meinte J’merlia schließlich. »Atvar H’sial muss Erdstoß während des Gezeitensturms aufsuchen. Wir sind weit gereist, brauchten lange, um hierher zu kommen. Es ist undenkbar, jetzt aufzugeben. Wenn Sie keine Genehmigung für uns erhalten können, für uns und für sich selbst, dann müssen andere Methoden ersonnen werden.«
Das große blinde Auge kam noch näher, so nah, dass Darya jede Borste und jede Pore erkennen konnte. Der Saugrüssel wurde ausgestreckt und berührte ihre Hand. Er fühlte sich warm und ein wenig klebrig an. Darya zwang sich dazu, nicht zurückzuzucken.
»Darya Lang«, sagte J’merlia dann. »Wenn Wesen ein gemeinsames Ziel verfolgen, dann sollten sie zusammenarbeiten, um dieses Ziel auch zu erreichen. Was auch immer andere ihnen für Hindernisse in den Weg stellen mögen, die, die ein Ziel verfolgen, gemeinsam, sollten sich nicht davon abhalten lassen. Wenn Sie uns Ihre Kooperation zusichern könnten, dann gibt es eine Möglichkeit, wie Darya Lang und Atvar H’sial Erdstoß vielleicht doch aufsuchen können. Mit offizieller Genehmigung oder ohne.«
Hatte J’merlia Atvar H’sials Gedanken wirklich richtig interpretiert? Es klang jedenfalls ganz so, als ob Darya gerade eben für eine geheime Operation angeworben worden wäre!
Darya blieb wachsam, aber diese Vorsicht vermischte sich mit Aufregung, mit einer gewissen Vorfreude. Es war, als hätte die Cecropianerin Daryas Gedanken gelesen. Wenn Rebka und Perry ihr gestatten sollten, Erdstoß aufzusuchen: wunderbar! Aber wenn nicht … würden sich andere Wege finden lassen. Eine geheime Operation etwa.
Und nicht einfach nur irgendeine Operation: eine Unternehmung, die darauf abzielte, sie zu ihrem Ziel zu bringen — während des Gezeitensturms.
Darya konnte das Pfeifen der Luft hören, die beständig durch die Stigmen der Cecropianerin gepumpt wurden. Aus dem Saugrüssel von Atvar H’sial troff eine dunkelbraune Flüssigkeit, und das augenlose Gesicht war das eines Dämons aus dem Albtraum eines Kindes. J’merlia, die schwarze, achtbeinige Gestalt, die neben Darya kauerte und so sehr an ein Strichmännchen erinnerte, hätte aus dem gleichen Albtraum stammen können.
Doch die Menschheit musste lernen, sich von Äußerlichkeiten nicht abschrecken zu lassen. Zwei Lebewesen, die in ähnlicher Weise dachten und dabei auch noch das gleiche Ziel verfolgten, konnten einander niemals völlig fremdartig sein.
Darya beugte sich vor. »Also gut, Atvar H’sial. Ich bin daran interessiert zu hören, was Sie zu sagen haben. Erklären Sie mir Ihre Pläne bitte genauer!«
Sie war ganz gewiss nicht bereit, irgendeinem wie auch immer gearteten Plan zuzustimmen. Aber es konnte gewiss nichts schaden, einfach nur zuzuhören!
6
Gezeitensturm minus neunundzwanzig
›Nabelschnur‹ und die Kapseln, die sich daran entlangbewegten, hatten sich bereits seit mindestens vier Millionen Jahren an genau dieser Position befunden, als die Menschen das Dobelle-System zu kolonisieren begannen. Wie alles, was die Baumeister konstruiert hatten, war auch ›Nabelschnur‹ offenkundig darauf ausgelegt, die Zeiten zu überdauern. Das System funktionierte perfekt. Es war ausgiebig studiert worden; doch obwohl die Analysen vieles über die Fabrikationsmethoden der Baumeister verrieten, erfuhr man doch nicht das Geringste über die Physiologie oder die Verhaltensweisen dieser alten, verschwundenen Spezies.
Atmeten Baumeister? Ihre Fahrzeuge waren offen, aus transparentem Material gebaut, und es gab keinerlei Luftschleusen oder dergleichen.
Schliefen Baumeister oder betätigten sie sich körperlich? Es fand sich in ihren Bauwerken nichts, was man als Schlafstätten hätte identifizieren können oder nur als ›Ort zum Ausruhen‹, auch fanden sich keine Orte, die auf Freizeitbeschäftigungen schließen ließen.
Aber gewiss mussten die Baumeister doch Nahrung aufnehmen und die nicht verstoffwechselten Reste wieder ausscheiden! Und dennoch: obwohl die Fahrt von Opal nach Erdstoß mehrere Stunden in Anspruch nahm, gab es nirgends Räumlichkeiten, in denen man Nahrungsmittel hätte aufbewahren oder zubereiten können, und ebenso wenig Möglichkeiten, Abfälle gleich welcher Art zu entsorgen.
Alles, was seinerzeit die Techniker der Menschen wenn auch nur sehr vorsichtig zu mutmaßen in der Lage gewesen waren, war, dass die Baumeister wirklich groß gewesen waren. Jede einzelne Kapsel war riesenhaft, ein Zylinder von mehr als zwanzig Metern Länge und einem fast ebenso großen Durchmesser, und das Innere war vollständig leer. Andererseits gab es keinerlei schlüssige Anzeichen dafür, dass diese Fahrzeuge überhaupt von den Baumeistern selbst genutzt worden waren — vielleicht waren sie ausschließlich für den Transport schwerer Lasten gedacht? Aber wenn das stimmte, warum waren sie dann im Inneren mit Instrumenten ausgestattet, um die Geschwindigkeit zu verändern, mit der sich die jeweilige Kapsel entlang der ›Nabelschnur‹ bewegte?
Während Historiker über die Natur und den Charakter der Baumeister diskutierten und Theoretiker sich den Kopf über bisher ungeklärte Elemente baumeisterlicher Wissenschaft zerbrachen, machten sich etwas praktischer veranlagte Geister daran, ›Nabelschnur‹ für die Kolonisten nutzbar zu machen. Auf Erdstoß gab es Mineralien und fossile Brennstoffe. Nichts von beidem war auf Opal zu finden, doch dafür gab es dort Lebensraum und ein akzeptables Klima. Das Transportsystem zwischen diesen beiden Welten war viel zu wertvoll, um es nicht zu nutzen.
Zuerst hatte man sich darum gekümmert einzurichten, was die Fahrt zwischen den beiden Teilen dieses Planeten-Dubletts erträglicher machte. Größe und Form der Kapseln konnte zwar im Ganzen nicht verändert werden — wie die meisten Objekte der Baumeister waren auch diese Fahrzeuge integrierte Module, praktisch unzerstörbar und daher so gut wie gar nicht veränderbar. Aber die Kapseln ließen sich recht leicht so umbauen, dass sie luftdicht wurden, und auch Luftschleusen und Apparaturen für der Druckausgleich ließen sich einbauen. Einfache Küchen wurden integriert, dazu Toiletten, medizinische Einrichtungen und Ruheräume. Schließlich, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass fast alle auf Planeten aufgewachsenen Menschen ein Problem mit großen Höhen haben, wurde der transparente Rumpf mit Abdeckplatten ausgekleidet, die man so polarisieren konnte, dass sie undurchsichtig grau wurden. Nur noch am obersten Ende der Kapsel befand sich nun eine Aussichtskanzel.