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Doch das war genau die falsche Frage. Perrys konzentrierter Gesichtsausdruck verschwand sofort. Stattdessen breitete sich jetzt unermessliche Traurigkeit auf seinem Gesicht aus. Rebka saß Perry gegenüber, wartete auf eine Antwort, bis er, nach einigen Minuten, begriff, dass er keine Antwort erhalten würde. Statt Max Perry aus seinen wiederkehrenden Tagträumen herauszureißen, hatte er ihn mit seiner Frage nur noch tiefer hineingestoßen. Der Mann war ganz weit weg, irgendwo, in einer sonderbaren Fuge voller unglücklicher Erinnerungen.

Erinnerungen woran? Sicherlich an Erdstoß während des Gezeitensturms.

Rebka sagte nichts mehr. Stattdessen leistete er vor sich selbst einen Eid, starrte ›Nabelschnur‹ entlang zu dem Knoten von ›Mittelstation‹ in der Ferne und gestand sich die unbequeme Wahrheit ein: Er hatte diesen Job nicht gewollt — dieser Kindermädchen-Posten hatte ihn gehindert, sich der größten Herausforderung seiner Karriere zu stellen! Er ärgerte sich darüber, von ›Paradox‹ abgezogen worden zu sein; er ärgerte sich darüber, dass man ihn in das Dobelle-System geschickt hatte; er ärgerte sich über Max Perry, und er ärgerte sich darüber, dass er sich Sorgen um die unterbrochene Karriere eines unbedeutenden Bürokraten machen musste.

Doch sein eigener Stolz ließ es nicht zu, dass er diesen Job einfach hinwarf, bis er nicht genau wusste, was diesen Mann gebrochen hatte. Denn Perry hatte etwas gebrochen, auch wenn der Commander versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen.

Und noch etwas anderes war ganz eindeutig: Woran auch immer Perry zerbrochen war, es lebte auf Erdstoß, kurz vor dem Gezeitensturm.

Und das bedeutete, dass Rebka ganz gewiss an einen Ort und zu einer Zeit würde zurückkehren müssen, an dem und zu der, so ließen alle Hinweise vermuten, Menschen nicht würden existieren können.

ARTEFAKT: NABELSCHNUR.

UKA-Nr.: 269

Galaktische Koordinaten: 26.837,1 86 / 17.428,947 / 363,554

Name: ›Nabelschnur‹

Sternen-/Planetenassoziation: Mandel / Dobelle (Dublett)

Bose-Zugangsknoten: 51 3

Geschätztes Alter: 4,037 ± 0,15 Megajahre

Erforschungsgeschichte: Entdeckt durch Fernsonden-Beobachtung während eines unbemannten stellaren Vorbeifluges an Mandel im Jahr 1446E. Erste genauere Erkundung durch bemannten Vorbeiflug im Jahr 1.513 E. (Dobelle und Hinchcliffe), erster Besuch durch ein Kolonistenschiff 1.668 E. (Raumscanner-Klasse, Wu und Tanaka). Erste Nutzung durch die Siedler von Dobelle: 1.742 E. Routinemäßig als Arbeitsgerät eingesetzt seit 1.778 E.

Physisch-technische Eckdaten: ›Nabelschnur‹ ist ein Transportsystem, das die Zwillingsplaneten des Dobelle-Systems, Opal (ursprünglicher Name: Ehrenknechter) und Erdstoß (ursprünglicher Name: Castelnuovo), verbindet. ›Nabelschnur‹, zwölftausend Kilometer lang und vierzig bis sechzig Meter breit, hat die Form eines Zylinders, der dauerhaft auf Opal verankert ist (Vertäuung auf dem Meeresgrund) und elektromagnetisch an Erdstoß haftet. Bei maximaler Annäherung des höchst exzentrischen Orbits des Dobelle-Systems an den Hauptstern Mandel wird die Vertäuung auf Erdstoß gelöst. Diese maximale Annäherung ereignet sich alle 1,43 Standardjahre.

Die Veränderung der Länge von ›Nabelschnur‹ erfolgt über die ›Winde‹, bei der eine lokale Raum-Zeit-Anomalie (ein mutmaßliches Artefakt) eingesetzt wird, die es ›Nabelschnur‹ ermöglicht, sich automatisch an Variationen im Opal/Erdstoß-Abstand anzupassen. Die ›Winde‹ sorgt auch für den automatischen Rückzug von ›Nabelschnur‹ von der Oberfläche von Erdstoß während der Mandel-Gezeitenmaxima (gemeinhin als der ›Gezeitensturm‹ bezeichnet). Wie diese Steuerung funktioniert, ist technisch inzwischen bekannt, allerdings konnte das Auslösesignal bisher nicht identifiziert werden (d. h. als Zeitsignal, Energiesignal oder sonstiges). ›Mittelstation‹ (9.781 Kilometer vom Schwerpunkt von Opal und 12.918 Kilometer vom Schwerpunkt von Erdstoß entfernt) gestattet die Zuladung oder das Löschen der über ›Nabelschnur‹ transportierten Lasten, die ins All auszuschleusen oder von dort zu bergen sind.

Anmerkung: ›Nabelschnur‹ ist eines der einfachsten und das am leichtesten zu verstehende sämtlicher bekannten Artefakte der Baumeister, und ist daher für die meisten ernstlich an der Technologie der Baumeister interessierten Wissenschaftler nur von nachgeordnetem Interesse. Dennoch ist es zugleich auch ein ganz eigenständiges Mysterium; denn auch wenn es recht einfach und schlicht ist, so ist es doch auch eines der jüngsten Leistungen der Baumeister-Technik (weniger als fünf Millionen Jahre alt). Manche Archäo-Spezialisten haben daraus auf den beginnenden Niedergang der Baumeister-Kultur geschlossen, der letztendlich im Kollabieren ihrer Zivilisation und deren vollständigen Untergang vor mehr als drei Millionen Jahren kulminierte.

Physikalische Eigenschaften: Verlustlose Wasserstoff-Zuleitungskabel mit stabilisierter Myonen-Verstärkung. Die Zugfestigkeit dieser Kabel entspricht in etwa der von Kabeln, wie sie im Bau von Atmosphären-Stationen der Menschen und Cecropianer verwendet werden, übersteigt sie jedoch nicht.

Der Antrieb der Transport-Kapseln erfolgt durch Synchronlinearmotoren mit konventioneller Kraftübertragung. Die Technik der Befestigung von Kabeln und Kapseln ist bisher nicht geklärt, aber bauähnlich mit dem System der Freiraum-Netze von ›Kokon‹ (vgl. Kokon, Eintrag 1).

Mutmaßlicher Zweck: Transportsystem. Bis zur Ankunft der Menschen blieb dieses System mindestens drei Millionen Jahre lang ungenutzt. Derzeit wird über regelmäßige Nutzung berichtet. Es gibt keine Anzeichen für andere, frühere Nutzungen.

— Aus Langs Universal-Katalog der Artefakte, Vierte Auflage.

7

Gezeitensturm minus siebenundzwanzig

Erdstoß veränderte sich. Nicht in der Art und Weise, vor der Max Perry gewarnt hatte, verwandelte sich nicht, während der Gezeitensturm immer näher rückte, von einer ausgedörrten, aber friedlichen Welt mit starker seismischer Aktivität in ein bebendes Inferno aus Strömen geschmolzener Lava und aufreißendem Erdreich. Stattdessen war Erdstoß in diesem Jahr der Großen Konjunktion einfach … unvorhersagbar geworden.

Und in gewisser Weise mochte Opal sich ebenso sehr verändern. Mehr als irgendjemand, der sich auf diesem Planeten aufhielt, begreifen mochte.

Dieser Gedanke war Rebka durch den Kopf gegangen, während sie einmal den halben Planeten umrundeten, auf ihrem Weg von der Basis von ›Nabelschnur‹ zum Sternenseiten-Raumhafen, wo Darya Lang vermutlich schon auf sie wartete.

Vor sechs Tagen war ihm der Flug, einmal um den wolkenverhangenen Planeten herum bis zur Basis von ›Nabelschnur‹, unendlich langweilig erschienen, es gab keine Turbulenzen und kaum etwas anderes zu sehen als nur gleichförmiges Grau, über sich und unter sich. Jetzt, wo es nur noch siebenundzwanzig Tage bis zum Gezeitensturm waren, wurde der Flugwagen von umherwirbelnden, heftigen Winden geschüttelt. Plötzliche Aufwinde zerrten an den Schwebeflächen und rüttelten am Rumpf. Max Perry war gezwungen, den Flugwagen höher und höher zu lenken, um dem peitschenden Regen zu entkommen, den schwarzen Gewitterwolken und den Luft- und Wasserwirbeln.

Also waren die Bewohner von Opal überzeugt, ihnen könne nichts geschehen, ja? War das so, auch wenn viel größere Gezeiten anstanden als normal?

Hans Rebka war sich da nicht so sicher.

»Sie gehen da aber von einer Annahme aus, die auf ganz schön wackeligen Beinen steht«, meinte er zu Perry, als dieser zum Landeanflug durch die Windböen ansetzte, um den Raumhafen auf der Sternenseite zu erreichen. »Sie denken, die Gezeiten auf Opal werden genauso sein wie bei allen anderen Gezeitenstürmen auch, nur ein bisschen kräftiger.«