Ich habe mich für diese zweite Möglichkeit entschieden. Man hatte mich gewarnt, dass, weil diese neuen Hemisphären integraler Bestandteil meines eigenen Körpers wären, ihre Effizienz der Datenspeicherung und des Erinnerungsvermögens von meinem eigenen Gesundheitszustand abhängig sein würde — je nachdem, wie müde ich sei oder ob ich irgendwelche Aufputschmittel genommen hätte. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie mich nicht für ungesellig halten, wenn ich einen Drink ablehne, oder denken, ich sei ein Gesundheitsfanatiker, der ständig nur an sein körperliches Wohlergehen denkt. Ich muss sehr darauf achten, ausreichend Ruhephasen zu bekommen und Entspannungsstimulantien jeder Art meiden, sonst ist mein Mnemotechnik-Interface in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Und das mag Steven nicht.«
Er lächelte, und widerstreitende Emotionen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, gerade als ein plötzlicher heulender Windstoß gegen das Gebäude peitschte. Die Faserwände erzitterten. »Denn was man mir nicht sagte, verstehen Sie«, fuhr er dann fort, »war, dass mein interner Mnemotechnik-Zwilling auch ein Bewusstsein würde entwickeln können — ein Selbst-Bewusstsein. Genau das ist geschehen. Wie ich schon sagte, ich bin Julius Graves, aber ich bin eben auch Steven Graves. Er ist die Quelle meiner Informationen über Darya Lang und diese Cecropianerin, diese Atvar H’sial. So. Können wir uns jetzt anderen Dingen widmen?«
»Kann Steven sprechen?«, fragte Rebka. Max Perry war von Graves Eröffnung wohl immer noch schockiert. Ein Mitglied des Rates, das sich in die eigenen Angelegenheiten einmischte, war schon schlimm genug — aber hier waren es gleich zwei! Und hatte Julius Graves stets die Kontrolle über sich selbst wie seinen Zwilling? Dem Augenschein nach, also der Beobachtung nach, wie häufig sein Gesichtsausdruck sich veränderte, lieferten sich diese beiden Ichs in Graves beständig einen Zweikampf.
Graves schüttelte den Kopf. »Steve kann nicht sprechen. Er kann auch nichts fühlen, sehen, anfassen oder hören, es sei denn, ich würde meine eigenen Sinneseindrücke zur mnemotechnischen Speicherung über einen zusätzlichen Corpuscallosum weiterleiten. Aber Steven kann denken — besser, so behauptet er hartnäckig, als ich. Er sagt mir, er habe dafür mehr Zeit. Und er sendet Signale an mich zurück, seine eigenen Gedanken, in Form wiederkehrender Erinnerungen. Die kann ich übersetzen, gut genug, dass die meisten annehmen würden, Steven würde unmittelbar mit mir sprechen. So zum Beispiel!«
Einen Augenblick schwieg er. Als er dann wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme deutlich jünger und sehr viel lebhafter. »Hi. Ich freue mich wirklich, hier auf Opal zu sein. Allerdings hat mir niemand gesagt, wie miserabel das Wetter hier ist! Na ja, es ist hin und wieder auch von Vorteil, zu sein, wo ich bin: Nass jedenfalls werde ich nicht, nicht mal, wenn’s so schüttet wie hier.« Dann kehrte die gewohnte Grabesstimme wieder zurück. »Ich bitte um Verzeihung. Steven liebt Witze, unabhängig von deren Qualität, und hat leider nur einen erbärmlichen Sinn für Humor. Ich bin nicht in der Lage, das zu kontrollieren; aber ich versuche herauszufiltern, was mir herauszufiltern möglich ist. Und ich muss zugeben, dass ich nichts gegen meine Abhängigkeit von Stevens Wissen tue. So verfügt beispielsweise er über die meisten Informationen, was diesen Planeten betrifft, während mein eigenes Wissen über dieses Thema bedauerlicherweise äußerst lückenhaft ist. Ich bedauere meine eigene Trägheit sehr.
Aber jetzt: können wir uns nun wieder der eigentlichen Aufgabe zuwenden? Mich führen Angelegenheiten in das Dobelle-System, denen man wohl kaum mit Humor begegnen kann.«
»Mord«, flüsterte Perry nach einer langen Pause. Der Sturm hatte jetzt schon fast seinen Höhepunkt erreicht, und je weiter das Tosen des Windes zugenommen hatte, desto unwohler fühlte er sich sichtlich. Er war außer Stande, still sitzen zu bleiben, und ging nun unruhig vor dem Fenster auf und ab, blickte zu den windgepeitschten Farnen und Gräsern hinaus oder zu den dahinrasenden Wolken hinauf, die im rostfarbenen Licht von Amarant rötlich erschienen.
»Mord«, wiederholte er. »Mehrfacher Mord. Das stand als Begründung in Ihrem Gesuch, Opal aufsuchen zu dürfen.«
»Das ist richtig. Aber nur, weil ich mich gescheut habe, eine Meldung über eine deutlich bedrohlichere Anschuldigung über das Bose-Netzwerk zu schicken.« Ganz offensichtlich scherzte Julius Graves keineswegs. »Eine zutreffendere Bezeichnung wäre Völkermord. Ich bin bereit, es mit der Bezeichnung mutmaßlicher Völkermord ein wenig abzumildern.«
Schweigend blickte er sich um, während neuerlicher Regen die Wände und das Dach peitschte. Die beiden anderen Männer waren wie erstarrt, Max Perry vor dem Fenster, Hans Rebka auf der Kante seines Sessels.
»Völkermord. Mutmaßlicher Völkermord. Gibt es da einen deutlichen Unterschied?«
»Das ist eine Frage des Standpunkts.« Die vollen Lippen des Allianzrates zuckten und zitterten. »In beiden Fällen gibt es keinerlei rechtliche Beschränkung bei der Untersuchung einer solchen Anschuldigung. Aber uns liegen nur Indizien vor, ohne echte Beweise und ohne Geständnis. Es ist meine Aufgabe, Beweise beizubringen. Und ich beabsichtige, diese Beweise hier auf Opal zu finden.«
Graves griff in die blau abgesetzten Taschen seines Jacketts und holte zwei Bildwürfel hervor. »So unwahrscheinlich es scheinen mag, das hier sind die beiden Beschuldigten, Elena und Geni Carmel, einundzwanzig Standardjahre alt, geboren und aufgewachsen auf Shasta. Und, wie Sie unschwer erkennen können, eineiige Zwillingsschwestern.«
Er hielt den beiden Männern die Bildwürfel entgegen. Rebka sah nur zwei junge Frauen, sonnengebräunt, mit großen Augen, sehr hübsch; sie trugen die gleiche Kleidung, olivgrün und hellbraun. Doch Max Perry sah offensichtlich noch etwas anderes in diesen Bildern. Er keuchte, als erkenne er eine oder beide Personen wieder, beugte sich ein wenig vor und griff hastig nach den Datenwürfeln. Schweigend starrte er sie an. Es dauerte weitere zwanzig Sekunden, bis die Anspannung aus seinem Gesicht wich und er wieder aufblickte.
Julius Graves beobachtete beide Männer. Rebka war plötzlich davon überzeugt, dass diesen trüben, blauen Augen nicht das Geringste entging. Man konnte diesen Mann für wunderlich, für exzentrisch halten, gewiss, der Mann war wunderlich und exzentrisch, auch wenn das nur eine bewusst nach außen getragene Maske war — hinter dieser Maske aber verbarg sich in jedem Falle eine vielleicht befremdliche, aber enorme Intelligenz. Narren wurden schließlich keine Ratsmitglieder.
»Sie scheinen diese Mädchen zu kennen, Commander Perry«, stellte Graves in diesem Moment fest. »Ist das so? Falls Ihnen die beiden jemals begegnet sind, ist es von immenser Wichtigkeit, dass ich erfahre, wann und wo diese Begegnung stattgefunden hat.«
Perry schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war noch bleicher als sonst. »Nein. Ich hatte nur einen Augenblick lang das Gefühl, nur im ersten Augenblick allerdings, die Würfel zeigten … jemand anderes. Jemanden, den ich von früher her kenne.«
»Jemanden?« Graves wartete, und dann, als klar wurde, dass Perry nichts mehr hinzufügen würde, fuhr er fort: »Ich habe nicht vor, irgendetwas vor Ihnen zu verbergen, und ich rate Ihnen dringend, nichts vor mir zu verbergen. Wenn Sie gestatten, werde ich jetzt Steven bitten, Ihnen den Rest zu erklären. Er verfügt über sämtliche uns zur Verfügung stehenden Informationen, und ich habe Schwierigkeiten, darüber zu sprechen, ohne dass Emotionen meine Aussagen färben.«
Das Zucken hörte auf. Graves Miene wurde sehr viel ruhiger, und auf einmal sah er aus wie ein sehr viel jüngerer, glücklicherer Mann. »Okay, los geht’s«, meinte er dann. »Die traurige Geschichte von Elena und Geni Carmeclass="underline" Shasta ist eine ziemlich reiche Welt, und wer dort aufwächst, darf so ziemlich machen, was er will. Als die Carmel-Zwillinge einundzwanzig wurden, haben sie ein kleines Raum-Kabrio geschenkt bekommen, die Sommer-Traumschiff. Doch statt einfach nur ein wenig in ihrem eigenen System herumzuflitzen, wie das die meisten Kids machen, haben sie ihre Familie dazu überredet, das Schiff mit einem Bose-Antrieb auszustatten. Und dann haben sie richtig einen draufgemacht: neun Welten der Vierten Allianz, drei der Zardalu-Gemeinschaft. Auf ihrem letzten Planet haben sie sich dann entschlossen, mal ›das richtige, unverfälschte Leben‹ kennen zu lernen — so jedenfalls möchten ihre Großeltern zu Hause die Sache verstanden wissen. Das heißt, die Zwillinge wollten, ohne Abstriche an ihren Ansprüchen machen zu müssen, irgendeine rückständige Welt erforschen.