»Wohin jetzt?« Sie flüsterte nur. Julius Graves würde über ein phänomenales Gehör verfügen müssen, um über den prasselnden Regen hinweg noch etwas von dem verstehen zu können, was sie sagte; doch sie war sich sicher, dass er ihnen hinterherblickte. Zweifellos fragte er sich, wohin sie gehen würden und warum, wenn das Wetter doch so unangenehm war. Aber Darya fühlte sich deutlich besser, jetzt wo er nicht mehr unmittelbar neben ihr stand.
»Wir werden gleich darüber sprechen.« J’merlia, die sämtliche Pheromone, die Atvar H’sial in ihrer Nervosität verströmte, unmittelbar auffing, hüpfte auf dem durchweichten Vorfeld des Raumhafens auf und ab, als sei der Boden glühend heiß. Die Stimme des Lo’tfianers zitterte, so drängend sprach er. »In den Wagen, Darya Lang! In den Wagen!«
Und tatsächlich streckten beide die Arme nach ihr aus, um sie hineinzuheben!
Sie stieß die Klauen von sich. »Wollen Sie denn unbedingt, dass Graves auf die Idee kommt, hier gehe etwas Illegales vor?«, zischte sie Atvar H’sial an. »Beruhigen Sie sich!«
Ihre Reaktion gab ihr sogar das Gefühl einer gewissen Überlegenheit. Die Cecropianer standen in dem Ruf, klar und rational denkende Wesen zu sein. Viele — einschließlich der Cecropianer selbst — behaupteten, ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit sei der der Menschen in jeder Hinsicht überlegen. Und hier war jetzt Atvar H’sial und zitterte vor Aufregung, als habe sie vor, ein gewaltiges Verbrechen zu begehen.
Die beiden Nichtmenschen drängten sich hinter ihr in den Wagen und stießen sie so weiter hinein.
»Sie verstehen nicht, Darya Lang.« Während Atvar H’sial die Luke schloss, drängte J’merlia sie weiter zum Pilotensessel. »Dies ist Ihr erstes Zusammentreffen mit einem Ratsmitglied einer der größeren Claden. Denen kann man nicht trauen. Allgemein heißt es, sie befassten sich ausschließlich mit Fragen der Ethik, aber das tun sie nicht! Sie kennen keine Scham! Sie halten es für ihr Recht, sich in alles einzumischen, wie wenig es sie auch angehen mag. Wir konnten in Anwesenheit dieses Julius Graves keinerlei Gespräche führen! Er hätte sicherlich etwas gemerkt und herausgefunden, was wir planen, sich dann eingemischt und alles ruiniert. Wir müssen fort von ihm. Schnell!«
Noch während J’merlia sprach, bedeutete Atvar H’sial Darya mit hektischen Bewegungen, endlich abzuheben — genau in die Sturmwolken hinein, die sich bedrohlich über der Hälfte des Himmels aufgetürmt hatten. Darya deutete schon auf diese Himmelserscheinung, als sie nur Bruchteile eines Augenblicks später begriff, dass das Echolot der Cecropianerin auf diese Entfernung nichts würde ›sehen‹ können. Selbst mit diesem unglaublich feinen Gehör musste Atvar H’sials Welt aus einer Schallkugel von gewiss nicht mehr als einhundert Metern im Durchmesser bestehen.
»Da vorne wütet der Sturm besonders heftig — da drüben, Richtung Osten.«
»Dann fliegen Sie nach Westen!«, wies J’merlia sie an. »Oder nach Norden oder nach Süden. Aber fliegen Sie!« Der Lo’tfianer kauerte sich auf den Boden des Flugwagens, während Atvar H’sial den Schädel gegen das Seitenfenster gelehnt hatte und nun mit blinden Augen ins Leere starrte.
In einer scharfen Kehrtwende ließ Darya den Wagen steil aufsteigen, sie floh in Richtung der helleren Wolken zu ihrer Linken. Wenn sie es schaffen sollte, über die Wolke zu kommen, dann konnte der Wagen mehrere Stunden gefahrlos weiterfliegen.
Aber wie viele? Darya hatte kein sonderliches Interesse, das herauszufinden. Wahrscheinlich wäre es besser, den Wagen weiter aufsteigen zu lassen, sich einen ruhigeren Ort zu suchen, wo sie dann in Ufernähe einer Schlinge würden landen können.
Zwei Stunden später musste sie diesen Plan aufgeben. Die Luftverwirbelungen schienen sich ewig hinzuziehen, und der Sturm wollte offensichtlich nicht im Mindesten nachlassen. Darya war bis zum Ufer der Schlinge geflogen und dann in weiten Kreisen immer weiter auf den Ozean hinaus, suchte eine andere Landemöglichkeit, fand jedoch keine. Was noch schlimmer war: die dichten, schwarzen Gewitterwolken schienen ihnen zu folgen. Eine massive graue Wand erstreckte sich über drei Viertel des Horizonts. Der Wetterfunk des Wagens meldete einen Sturm der ›Kategorie Fünf‹, machte sich aber nicht die Mühe, das genauer zu erläutern. Mandel war untergegangen, und nun flogen sie nur im zornigen Schein von Amarant dahin.
Darya wandte sich Atvar H’sial zu. »Wir können nicht ewig hier oben bleiben, und ich möchte nichts bis auf die letzte Minute aufschieben. Ich werde uns jetzt noch höher bringen, genau über den Sturm. Auf der Höhe werden wir dann bleiben und wieder in Richtung Raumhafen zurückfliegen. Der beste Landeplatz ist der, von dem wir aufgebrochen sind.«
Atvar H’sial nickte selbstgefällig, als J’merlia ihr die Nachricht übermittelt hatte. Der Sturm machte der Cecropianerin keine Angst — vielleicht weil sie die schwarzen Wolken nicht sehen konnte, die über den Himmel rasten und verrieten, wie heftig dieser Sturm in Wirklichkeit war. Sorgen machte sich die Cecropianerin nur wegen Julius Graves.
Während sie weiterflogen, unterbreitete Atvar H’sial Dana über J’merlia ihren gesamten Plan. Bald würde man ihnen die offizielle Antwort auf ihre Besuchsanträge mitteilen — sobald Captain Rebka zurückgekehrt war. Wenn man ihnen die Zustimmung, Erdstoß aufzusuchen, verweigerte, dann sollten sie umgehend zur Erdstoßseite von Opal aufbrechen, in einem Luftwagen, dessen Miete bereits bezahlt war. Dieser stand schon für sie bereit, auf einem kleinen Rollfeld auf einer anderen Schlinge, nicht allzu weit vom Raumhafen von Sternenseite entfernt. Um ihn zu erreichen, mussten sie nur vor Ort einen Flugwagen mieten, und zwar einen, dessen Reichweite so eingeschränkt war, dass Rebka und Perry nicht im Traum auf das Reiseziel winden kommen können, das sie ansteuerten.
Mit J’merlias Hilfe, der stets die Übersetzung übernahm, konnte Atvar H’sial ohne Schwierigkeiten all diese Vorbereitungen treffen. Was sie allerdings nicht konnte, die eine Aufgabe, für die eben Darya Lang absolut unerlässlich sein würde, das war das Abrufen einer Kapsel an ›Nabelschnur‹.
Atvar H’sial zählte ihre Gründe auf, während Darya nur mit einem Ohr zuhörte, weil sie immer weiter gegen den Sturm ankämpfen musste. Kein Cecropianer hatte Opal jemals zuvor aufgesucht. Wenn nun also einer auf der Erdstoßseite auftauchte und dann auch noch versuchte, eine Kapsel von ›Nabelschnur‹ zu betreten, dann würde das sofort dazu führen, dass Fragen gestellt würden. Die Genehmigung würde ihnen nicht erteilt werden, solange sie nicht die entsprechenden Passierscheine würden vorlegen können, und das führte sie dann unweigerlich zu Rebka und Perry zurück.
»Aber Sie«, erläuterte J’merlia soeben, »würden sofort vorgelassen werden. Wir haben entsprechende Papiere für Sie bereits vorbereitet.« Die gefältelte Oberfläche von Atvar H’sials Saugrüssel zog sich ein wenig zusammen. Sie beugte sich über Darya hinweg, die Vorderbeine so aneinander gelegt, als sei sie in ein andächtiges Gebet versunken. »Sie sind ein Mensch … und Sie sind weiblich.«
Als ob das helfen würde! Darya seufzte. Eine vollständige Interspezies-Kommunikation schien wirklich unmöglich zu sein. Sie hatte es Atvar H’sial bereits dreimal erklärt, doch diese Cecropianerin schien einfach nicht akzeptieren zu wollen, dass bei den Menschen die Weibchen nicht das unangefochten herrschende Geschlecht waren.
Darya machte sich daran, den Flugwagen weiter an Höhe gewinnen zu lassen. Dieser Sturm hatte es echt in sich! Sie mussten über diese Gewitterwolken aufsteigen und zusehen, sie weit genug hinter sich zu lassen, bevor sie den Sinkflug würden einleiten können, und trotz der Stabilität und der Leistungsfähigkeit ihres Flugwagens war sie doch nicht gerade von der Aufgabe begeistert, die vor ihr lag.