»Und wir kennen die richtigen Steuersequenzen, um an ›Nabelschnur‹ aufzusteigen«, fuhr J’merlia fort. »Sobald Sie, Darya Lang, uns erst die Möglichkeit eröffnet haben, unbemerkt die Kapsel zu besteigen, wird uns nichts mehr davon abhalten, die Oberfläche von Erdstoß zu erreichen!«
Diese Worte waren eigentlich dazu gedacht, Darya zu ermutigen und ihr sämtliche Sorgen zu nehmen. Erstaunlicherweise hatten sie genau den gegenteiligen Effekt. Darya begann, ein wenig genauer darüber nachzudenken. Diese Cecropianerin war nach ihr auf Opal eingetroffen — und dennoch hatte sie bereits diese gefälschten Papiere vorbereitet? Und sie kannte die Steuersequenzen von ›Nabelschnur‹ — woher hatte sie die?
»Sag Atvar H’sial, dass ich über das alles erst nachdenken muss, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffen kann.«
Nachdenken und deutlich mehr auf eigene Faust herausfinden, bevor ich mich auf irgendeine gemeinsame Fahrt mit Atvar H’sial nach Erdstoß mache! Dieser Nichtmensch schien über das Dobelle-System fast alles zu wissen.
Außer vielleicht, wie gefährlich die Stürme auf Opal sein konnten.
Sie befanden sich jetzt im Sinkflug, und die Turbulenzen waren zutiefst erschreckend. Darya hörte und spürte, wie die gewaltigen Winde den Wagen packten. Sie betete, dass die automatischen Stabilisatoren und das Annäherungssystem besser fliegen konnten als sie selbst. Sie war ja schließlich keine Superpilotin!
Atvar H’sial und J’merlia schien die Brisanz der Lage nicht aus der Ruhe zu bringen. Vielleicht hatten ja Lebewesen, die von flugfähigen Vorfahren abstammten, wie entfernt auch immer, im Allgemeinen eine tatsächlich andere Einstellung zu Flugreisen.
Aber Darya selbst würde sich sicherlich nie so richtig an diese Art der Fortbewegung gewöhnen können. Jetzt hatten sie die Wolkendecke durchstoßen und rasten geradewegs in ein Unwetter hinab, einen Wolkenbruch, der heftiger war als alles, was Darya jemals auf Wachposten-Tor erlebt hatte. Bei einer Sicht von weniger als einhundert Metern und keinerlei Landmarken, an denen sie sich hätte orientieren können, musste sie sich ganz auf die Funkfeuer des automatisierten Landesystems von Sternenseite verlassen.
Wenn das in einem derartigen Regenguss überhaupt funktionierte.
Durch das Frontfenster konnte man nicht das Geringste erkennen, außer Unmengen vom Wind gepeitschten Regens. Sie befanden sich schon lange im Sinkflug — zu lange! Hinter ihren Instrumenten atmete Darya tief durch und riss sich zusammen, dann schaute sie sich ihre Instrumente ganz genau an. Höhe: dreihundert Meter. Schrägentfernung zum Funkfeuer: zwei Kilometer. Sie mussten wenige Sekunden vor der Landung stehen. Aber wo war das Rollfeld?
Darya blickte von den Instrumenten auf und sah einige Sekunden lang die Landeleuchten. Da waren sie, genau vor ihr. Sie drosselte den Schub, ließ den Wagen einfach geradewegs auf die leuchtende Linie zutreiben. Kurz setzten die Räder des Fahrwerks auf. Dann erfasste ein heranrollender Seitenwind den Wagen, riss ihn in die Höhe und drehte ihn dann zur Seite.
Zeitlupe. Von diesem Augenblick an bewegte sich alles in Zeitlupe.
Der Wagen begann zu fallen. Darya beobachtete, wie eine der Tragflächen über den regennassen Boden scharrte …
… beobachtete, wie die Tragfläche eine tiefe Furche hinterließ, sich dann verbog und einknickte …
… hörte das Krachen, als die Tragfläche barst …
… spürte, wie der Flugwagen ansetzte, sich zu überschlagen …
… und wusste, ohne jeden Zweifel, dass der bessere Teil der Landung vorbei war.
Nicht einen Augenblick lang verlor Darya das Bewusstsein. Sie war davon so überzeugt, dass nach kurzer Zeit ihr Verstand ihr eine Erklärung dessen zu liefern im Stande war, was hier genau passierte: Immer, wenn sie die Augen schloss, und sei es nur zum Blinzeln, dann veränderte irgendjemand die gesamte Szenerie.
Zuerst die Schmerzen und die würdelose Art, wie man sie über nassen, unebenen Boden schleifte. Hier gab es keine Szenerie, denn ihre Augen funktionierten einfach nicht.
(Blinzeln)
Sie lag auf dem Rücken, während irgendjemand sich über sie beugte und ihre Stirn abtupfte. »Kinn, Mund, Nase«, sagte eine Stimme. »Augen.« Und furchtbare Schmerzen.
»Getriebeöl, würde ich sagen.« Mit ihr sprach diese Stimme nicht. Sie gehörte einem Mann. »Ist in Ordnung, das ist nicht toxisch. Kommen Sie mit den anderen zurecht?«
»Jou«, erwiderte eine andere Stimme, ebenfalls ein Mann. »Aber der Große hat einen Riss im Panzer. Da kommt irgendein klebriges Zeugs raus, und wir können das nicht nähen. Was soll ich machen?«
»Vielleicht zukleben?« Ein dunkler Schatten bewegte sich von ihr fort. Kalte Regentropfen spritzten in ihre brennenden Augen.
(Blinzeln)
Grüne Wände, beigefarbene Decke und das Zischen und Surren von Pumpen. Ein computergesteuerter Tropf speiste irgendetwas in ihren linken Arm ein, der auf einer Metallschiene über ihrem Körper schwebte. Alles fühlte sich warm und kuschelig und einfach wunderbar an.
Neomorph, sagte eine distanzierte Stimme in ihrem Bewusstsein. Wird vom Computer verabreicht, wann immer die Telemetriedaten ihm sagen, dass du das brauchst. Leistungsstark. Macht sehr schnell abhängig. Auf Wachposten-Tor verboten. Nur unter kontrollierten Bedingungen und in Kombination mit Epinephrin-Hemmern gestattet.
Blödsinn, sagte der ganze Rest ihres Körpers. Fühlt sich prima an. Die aus dem Phemus-Kreis, die wissen wirklich, was man mit Drogen alles anstellen kann! Hoch sollen sie leben, dreimal hoch!
(Blinzeln)
»Fühlen Sie sich besser?«
Eine blöde Frage! Sie fühlte sich überhaupt nicht gut. Ihre Augen taten weh, ihre Ohren taten weh, ihre Zähne taten weh, ihre Zehen taten weh. In ihrem Schädel brummte es wie verrückt, und immer wieder spürte sie stechende Schmerzen, die in der Nähe ihres linken Ohres anfingen und sich dann bis in ihre Fingerspitzen zogen. Aber sie kannte diese Stimme.
Darya öffnete die Augen. Wie von Zauberhand war ein Mann an ihrem Bett erschienen.
»Ich kenne Sie.« Sie seufzte. »Aber ich weiß noch nicht einmal, wie Sie mit Vornamen heißen. Sie armer Kerl! Sie haben bestimmt gar keinen Vornamen, was?«
»Doch, hab ich. Hans.«
»Captain Hans Rebka. Dann ist ja alles in Ordnung, Sie haben ja doch einen Vornamen! Sie sehen eigentlich ganz gut aus, Sie müssten nur ein bisschen häufiger lächeln. Aber Sie sind doch eigentlich auf Erdstoß!«
»Wir sind schon wieder zurück.«
»Ich will auch nach Erdstoß!«
Diese blöde Droge, dachte sie dann. Das lag an dieser Droge, anders konnte das gar nicht sein, und jetzt wusste sie auch, warum sie auf Wachposten-Tor verboten war. Sie musste unbedingt die Klappe halten, bevor sie noch irgendetwas sagte, was ihr so richtig Ärger einbrachte.
»Kann ich da auch hin, lieber Hans? Ich muss nämlich da hin, weißt du? Also: Lässt du mich nach Erdstoß reisen? Wie wär’s, Hans Rebka?«
Sie blinzelte, bevor er ihr antworten konnte. Er war verschwunden.
Als sie dann die Augen wieder öffnete, war im Raum eine deutliche Veränderung vorgenommen worden. Zu ihrer Rechten war ein Geflecht aus schwarzen Metallröhren errichtet worden, das an eine Art würfelförmiges Baugerüst erinnerte. In dessen Mitte hing ein Haltegeschirr, das mit stabilen Tauen an den Ecken befestigt war. In diesem Geschirr — der an eine Tonpfeife erinnernder Torso, dicht von weißen Binden umwickelt, der Kopf hing schlaff herab, die dünnen Gliedmaßen zu beiden Seiten vertikal ausgestreckt — hing J’merlia.
Die verdrehte Haltung des umwickelten Leibes ließ an die unerträglichen Schmerzen kurz vor dem letzten krampfartigen Atemzug eines Sterbenden denken. Sofort blickte Darya sich nach Atvar H’sial um. Die Cecropianerin war nirgends zu sehen. War es möglich, dass die Symbiose der beiden so ausgeprägt war, dass der Lo’tfianer ohne die andere gar nicht würde überleben können? War er gestorben, als die beiden getrennt wurden?