»J’merlia?«
Ohne lange darüber nachzudenken, hatte sie ihn schon angesprochen. Da J’merlias Worte nichts anderes gewesen waren als die Übersetzung der Pheromone von Atvar H’sial, war es doch wirklich dämlich, irgendeine Art unabhängiger Reaktion zu erwarten.
Ein zitronenfarbenes Auge wurde in ihre Richtung geschwenkt. Also war ihm zumindest bewusst, dass sie hier war.
»Kannst du mich hören, J’merlia? Du siehst aus, als hättest du furchtbare Schmerzen. Ich weiß nicht, warum du in diesem entsetzlichen Haltegeschirr hängst. Wenn du mich verstehen kannst und Hilfe brauchst, dann sag es mir!«
Es folgte langes Schweigen. Hoffnungslos, dachte Darya.
»Ich danke Ihnen für Ihre Besorgnis«, sagte eine trockene, sehr vertraute Stimme schließlich. »Aber ich habe keine Schmerzen. Dieses Haltegeschirr wurde auf meine explizite Bitte hin angefertigt, um mir die Heilung zu erleichtern. Sie waren nicht bei Bewusstsein, als das geschah.«
War das wirklich J’merlia, der da gerade sprach? Unwillkürlich blickte Darya sich im Raum um. »Bist du das, oder spricht da gerade Atvar H’sial? Wo ist Atvar H’sial? Lebt sie noch?«
»Sehr wohl. Doch ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Verletzungen schlimmer als die Ihren sind. Bei ihr waren größere chirurgische Eingriffe an ihrem Exoskelett erforderlich. Sie hingegen haben lediglich einen gebrochenen Knochen und zahlreiche Prellungen. Sie werden in drei Dobelle-Tagen wieder ganz und uneingeschränkt mobil sein.«
»Was ist mir dir?«
»Ich bin nichts; meine Lage ist unbedeutend.«
J’merlias Zurückhaltung war akzeptabel gewesen, als Darya in ihm kaum mehr als das Wesen gesehen hatte, dass die Gedanken der Cecropianerin aussprach. Doch jetzt war er ein eigenständiges, vernunftbegabtes Lebewesen mit eigenen Gedanken und eigenen Gefühlen.
»Sag es mir, J’merlia! Ich möchte es wissen!«
»Ich habe zwei Glieder eines meiner Hinterbeine verloren — nicht weiter erwähnenswert, das wächst nach —, und unterhalb meines Pedicellus ist ein wenig Körperflüssigkeit ausgetreten. Zu vernachlässigen.«
Er hatte eigene Gefühle — und auch eigene Rechte?
»J’merlia …« Sie hielt inne. Ging das hier sie überhaupt etwas an? Ein Mitglied des Rates war hier, auf diesem Planeten. Tatsächlich war sogar der Versuch, vor diesem speziellen Allianzrat zu flüchten, der Hauptgrund für ihre Verletzungen. Wenn es irgendjemanden gab, der sich Gedanken um den Status der Lo’tfianer zu machen hatte, dann war das dieser Julius Graves, und nicht sie, Darya Lang!
»J’merlia.« Sie ertappte sich selbst dabei, einfach weiterzusprechen. Wie lange dauerte es wohl noch, bis sie diese Droge ganz aus ihrem Körper ausgeschieden hatte? »Wenn Atvar H’sial in der Nähe ist, dann sprichst du niemals deine eigenen Gedanken aus. Du sagst nie überhaupt irgendetwas!«
»Das ist wahr.«
»Warum nicht?«
»Ich habe nichts zu sagen. Und es wäre auch nicht angemessen. Schon bevor ich meine zweite Form erreicht hatte, war Atvar H’sial bereits als meine Meisterin ausgewählt worden. Wenn sie anwesend ist, ist meine einzige Aufgabe, ihre Gedanken an andere weiterzugeben. Ich habe keine anderen Gedanken.«
»Aber du verfügst über Intelligenz, du verfügst über eigenes Wissen. Das ist einfach falsch! Du solltest eigene Rechte haben …« Darya hielt inne. Der Lo’tfianer wand sich in seinem Haltegeschirr, sodass er dann beide Facettenaugen auf die Menschenfrau richten konnte.
Dann senkte er sichtlich den Kopf. »Professorin Darya Lang, wenn Sie gestatten? Sie und alle Menschen sind mir weit überlegen, mir und allen Lo’tfianern. Ich würde es niemals wagen, Ihnen zu widersprechen. Aber würden Sie mir erlauben, Ihnen unsere Geschichte und die der Cecropianer zu erzählen? Darf ich?«
Sie nickte. Das reichte anscheinend nicht aus, denn er wartete, bis sie schließlich sagte: »Also gut. Erzähl mir davon!«
»Ich danke Ihnen. Ich werde mit unserer eigenen Geschichte beginnen, nicht weil wir wichtig wären, sondern nur, damit Sie die Möglichkeit des Vergleichs haben. Unsere Heimatwelt heißt Lo’tfi. Dort ist es kalt, und der Himmel ist klar. Wie Sie vielleicht aufgrund meines Äußeren bereits vermutet haben, vermögen wir ausgezeichnet zu sehen. Jede Nacht haben wir die Sterne gesehen. Tausende von Generationen lang haben wir diese Information lediglich dazu genutzt, in Erfahrung zu bringen, zu welcher Jahreszeit welche Nahrungsmittel zur Verfügung stehen würden. Das war alles. Wenn es wärmer oder kälter war als gewöhnlich, dann sind viele von uns verhungert. Wir konnten miteinander sprechen, aber wir waren doch kaum mehr als nur primitive Tiere, die nichts über die Zukunft und nur wenig über die Vergangenheit wussten. Wahrscheinlich wären wir immer so geblieben.
Und nun denken Sie bitte an Atvar H’sial und ihr Volk! Sie haben sich auf einer dunklen, stets wolkenbedeckten Welt entwickelt — und sie waren blind. Weil sie über Echoortung ›sehen‹, bedeutet ›sehen‹ für sie unweigerlich, dass es auch Atemluft oder eine andere Atmosphäre geben muss, die diesen Schall weiterträgt. Also konnten sie mit ihren Sinnen niemals etwas wahrnehmen, was sich außerhalb ihrer eigenen Atmosphäre befand. Sie haben die Existenz ihrer eigenen Sonne hergeleitet, weil sie deren schwache Strahlung als Wärmequelle wahrnahmen. Sie mussten eine Technologie entwickeln, die ihnen verriet, dass es so etwas wie Licht überhaupt gibt. Und dann mussten sie Instrumente entwickeln, die gegenüber dem Licht und anderer elektromagnetischer Strahlung gegenüber empfindlich waren, sodass sie diese Strahlung delektieren und messen konnten.
Und das war nur der Anfang. Mit diesen Instrumenten mussten sie dann zum Himmel aufblicken und die Existenz eines Universums ableiten, das sich jenseits ihrer Heimatweltjenseits ihrer Sonne, erstreckt. Und schließlich mussten sie die Wichtigkeit der Sterne erkennen, die Entfernungen messen und dann Schiffe bauen, um zu ihnen zu reisen und sie zu erkunden.
Das haben sie getan — das alles! —, während wir Lo’tfianer nur herumgesessen und geträumt haben. Wir sind die ältere Spezies, aber wenn die Cecropianer nicht unsere Welt entdeckt und uns ein Selbst-Bewusstsein nahe gebracht hätten, dann würden wir immer noch tatenlos dort herumsitzen, ganz so wie Tiere.
Im Vergleich zu den Cecropianern oder auch zu den Menschen sind Lo’tfianer gar nichts. Im Vergleich zu Atvar H’sial bin ich gar nichts. Wenn ihr Licht erstrahlt, dann sollte das meine nirgends zu sehen sein. Wenn sie spricht, so gereicht es mir zur Ehre, als das Instrument zu fungieren, dass ihre Gedanken zu Ihnen weiterträgt.
Hören Sie, Professorin Darya Lang? Es gereicht mir zur Ehre! Darya Lang?«
Sie hatte zugehört — sehr aufmerksam sogar. Doch jetzt setzten die Schmerzen wieder ein, und der computergesteuerte Tropf war nicht bereit, das tatenlos hinzunehmen. Vor wenigen Sekunden war die Pumpe wieder aktiviert worden.
Sie zwang sich, die Augen offen zu halten.
Ich bin gar nichts! Was für ein Minderwertigkeitskomplex — und darunter litt eine ganze Spezies! Aber es sollte den Lo’tfianern nicht gestattet sein, eine Sklaven-Spezies zu sein — auch wenn sie das selbst so wollten. Sobald sie, Darya, ihn erreichte, würde sie ihm davon berichten.
Ihm.
Wem?
Trübe, blaue Augen, in denen der Wahnsinn stand, aber sie konnte sich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Hatte sie Angst vor ihm? Aber gewiss nicht.